Andrea L. Sablone 05.02.2021

Drei Mythen der Digitalisierung

Eine Vorgehensweise, wie Unternehmungen digital(er) gestaltet werden können.

Wie sollen Geschäftsleitende dem Anspruch begegnen, ihre Unternehmungen digitaler zu gestalten? In diesem Beitrag werden drei weitverbreitete Meinungen rund um das Thema Digitalisierung behandelt, die wiederkehrend in mehr oder weniger expliziter Form zirkulieren und drohen, sich zu tief sitzenden Annahmen zu zementieren. Die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung damit lässt sich mit der unerwünschten Wirkung begründen, die sie in den Führungskräften auslösen können. Die zwei Extreme davon sind Hyperaktivismus und Erstarrung. Anschliessend wird  eine Vorgehensweise präsentiert, um eine Antwort auf die Anfangsfrage zu geben.

Mythos 1: Hauptsache Digital

Mit der Parole «Hauptsache digital» wird die Meinung vertreten, alles, was digital sei, soll willkommen und gutgeheissen werden. Tatsächlich liegt die Versuchung nahe, sich von den Möglichkeiten der Technologie und vielleicht auch von den Versprechungen derer Vertreter steuern zu lassen. Nun besagt ein etabliertes Prinzip der Betriebswirtschaft, dass der Erfolg einer Unternehmung damit zusammenhängt, dass sie «die richtigen Dinge tut», und dann, dass sie «die richtigen Dinge richtig tut». Die mangelnde Beachtung dieser Reihenfolge könnte zum Paradoxon führen, «die falschen Dinge, richtig zu tun». Auf Digitalisierung bezogen bedeutet dies, dass die digitale Umgestaltung eines Geschäftsmodells:

  • Erst dann vorgenommen werden sollte, wenn das Modell langfristig zukunftsträchtig bleibt;
  • gezielt dort anfangen sollte, wo die Wirkung am grössten ist.

Nun liegt die Krux darin, dass bei unternehmerischen Entscheidungen niemand von vornherein mit Sicherheit sagen kann, weder was das Richtige ist noch wie die Zukunft aussehen wird, denn sie sind intrinsisch von Ungewissheit gekennzeichnet. Schliesslich sind es die Kunden, die einer Unternehmung die verlässliche Rückmeldung geben, dass sie etwas Richtiges tut und zwar nicht, indem sie Beifall klatschen, sondern durch den Kauf ihrer Produkte respektive Dienstleistungen. Was dann die Zukunft angeht, so kann eine Unternehmung zwar das Richtige tun, allerdings zum falschen Zeitpunkt. Den Beweis dafür liefern all jene Unternehmungen, deren späterer Eintritt im Unterschied zum «First Mover» von Erfolg gekrönt wird.

««Eine Unternehmung kann zwar das Richtige tun, allerdings zum falschen Zeitpunkt»»

Mythos 2: Hauptsache Daten

Eine zweite, häufig anzutreffende Haltung in Zusammenhang mit Digitalisierung betrifft die Daten. Um sie herum wird eine «Heiliger Gral»-Stimmung heraufbeschworen, in der Erwartung, aus ihnen liessen sich Erkenntnisse gewinnen bzw. Möglichkeiten generieren, die wesentlich zur erfolgreichen Entwicklung einer Unternehmung beitrügen. Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive wird Daten in der Tat das Potenzial anerkannt, die Ungewissheit unternehmerischer Entscheidungen zu mindern. Ob das Potenzial dann auch genutzt wird, hängt von der Erfüllung verschiedener, anspruchsvoller Bedingungen ab. Daten sind nämlich nicht gleich Daten. Auch bildet eine grosse Menge an Daten nicht per se eine solide Grundlage für unternehmerische Entscheidungen. Sowohl die Data Science als auch die Betriebswirtschaft stellen Bedingungen zur Datenqualität. Erstere betreffend formeller Aspekte wie Format, Genauigkeit und Vollständigkeit. Letztere, indem sie eine aussagekräftige Mischung aus internen und externen, quantitativen und qualitativen Daten erfordert. Sich z. B. ausschliesslich auf interne, vorwiegend vergangenheitsorientierte Daten zu stützen, könnte die Geschäftsleitung in falscher Sicherheit wähnen lassen, denn die Zahlen aus der Buchhaltung bilden die Realität erst mit Verzögerung ab. Mit der aufwendigen Sammlung und Bereitstellung von qualitativ hochstehenden Daten ist die Arbeit längst nicht getan, denn Daten wollen sach- und fachgerecht interpretiert werden. Jede Person, die bereits einmal einen Business Case gerechnet hat, ist die Illusion los, man könne die Daten «für sich» sprechen lassen. Daten werden immer interpretiert und die bewusst oder unbewusst gewählten «Brillen» sind entscheidend für das, was daraus gelesen wird. Diese Herausforderung kann auch eine maschinelle Verarbeitung der Daten nicht umgehen, denn keine Menge an Daten, egal wie gross und qualitativ hochstehend, kann das erfolgskritische Restrisiko unternehmerischer Entscheidungen ausmerzen. Wäre dies möglich, so würde es sich um keine unternehmerische, sondern lediglich um eine optimierende Entscheidung handeln.

Mythos 3: Hauptsache, die richtige Kultur

In diese Kategorie fallen solche Argumentationen, die den Erfolg von Unternehmensinitiativen abwechselnd oder kumulativ auf das «richtige Team», auf die «richtigen Eigenschaften» einer Leitungspersönlichkeit und manchmal direkt auf die «richtige Firmenkultur» zurückführen. Hätte man die «richtigen Leute» oder die «richtige Kultur», so die Meinung, würde sogar ein falsches Vorhaben zum Erfolg führen, weil die Beteiligten die notwendigen Korrekturen anbringen und schliesslich eine zielführende Richtung einschlagen würden. Da der Digitalisierung nachgesagt wird, ganze Sektoren mit hochspezialisiertem und branchenfremdem Wissen auf den Kopf stellen zu können, gewinnt diese Meinung an Legitimation. Eine solche Einstellung scheint sogar in der Forschung einen gewissen Anklang zu finden, denn immer wieder werden die Charakteristika von erfolgreichen Teams und erfolgreichen Unternehmerpersönlichkeiten sowie die kulturellen
Merkmale erfolgreicher Unternehmungen akribisch untersucht. Eine abschliessende Antwort darauf, welche die Eigenschaften wären, die unweigerlich zum Erfolg führen, bleibt eine Chimäre. Schliesslich können unterschiedliche Kombinationen verschiedener Faktoren zum gewünschten Ziel führen. Es bleibt somit für jede Geschäftsleitung die Herausforderung bestehen, mit den vorhandenen Ressourcen das bestmögliche Resultat herauszuholen, denn – nur wenige Organisationen werden Ressourcen überdurchschnittlicher Qualität besitzen, sonst wären diese nicht mehr überdurchschnittlich. Der Kern dieser Argumentation verliert auch dann nicht an Bedeutung, wenn man die Möglichkeit berücksichtigt, gezielt gewisse Ressourcen hinzuzufügen bzw. auszuwechseln.

««Jede Person, die bereits einmal einen Business Case gerechnet hat, ist die Illusion los, man könne die Daten ‹für sich› sprechen lassen»»

Vorschläge eines gangbaren Wegs Zur Digitalisierung

Bevor mit der Digitalisierung vom Bestehenden begonnenu wird, sollte sorgfältig analysiert werden, ob das Geschäftsmodell zukunftsträchtig ist. Fällt die Antwort bejahend aus, wenn also die Unternehmung im bestehenden Geschäft «das Richtige tut», so stellt sich die Frage: Wo sollte man mit der Digitalisierung anfangen beziehungsweise welche Initiativen sollte man priorisieren? Die allgemeine Antwort lautet: Dort, wo, in Anbetracht der mobilisierbaren Ressourcen, die grösste Hebelwirkung erzeugt werden kann. Im betriebswirtschaftlichen Sinne heisst dies, dort, wo aus Kundensicht ein Vorteil gegenüber der Konkurrenz zu generieren ist. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, die Bedürfnisse der aktuellen und potenziellen Kundschaft zu verstehen sowie das Angebot der Konkurrenz zu prüfen. Dies sind genau die beizuziehenden Daten, um fundierte unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Die folgende schematische Darstellung einer Unternehmung in vier Blöcken gibt mögliche Ansatzpunkte für die Lancierung von Digitalisierungsinitiativen.

Digitalisierung mit dem Geschäftsmodell verbinden

Die Darstellung oben verbildlicht folgende Logik:

  • Jede Unternehmung verfügt über Ressourcen und Fähigkeiten – materielle Ressourcen wie Rohstoffe und Halbfabrikate, immaterielle Ressourcen wie Patente oder Marken sowie Kenntnisse in verschiedenen Bereichen, die direkt oder indirekt zur Erbringung von Dienstleistungen oder zur Erstellung von Produkten eingesetzt werden können.
  • Ressourcen und Fähigkeiten werden in Betriebsprozessen eingesetzt, sprich in wiederkehrenden Abläufen und Verfahren, die dazu dienen, aus den gegebenen Ressourcen und Fähigkeiten, Produkte und/oder Dienstleistungen zu generieren.
  • Diese wiederum werden der bestehenden sowie potenziellen Kundschaft über Vertriebskanäle angeboten. Die schattierte Farbe soll verdeutlichen, dass die Unternehmung sowohl eigene als auch Fremdkanäle (Grossisten, Detailhändler, Plattformen etc.) nutzen kann.

Es sollte nun leichter fallen, Digitalisierung in dieses Schema einzuführen und dabei die Vielzahl an Wirkungsbereichen zu ermitteln, die sie betreffen kann. Schauen wir uns einige Beispiele dafür an.

Vielfältige Wirkungsbereiche der Digitalisierung

Die Digitalisierung kann die Herstellung eines Produkts betreffen:

  • Zum Beispiel den Einsatz einer Simulations-Software beim Entwurf des Produkts. Sie kann die Automatisierung von Prozessen betreffen.
  • Oder die Vernetzung von Anlagen und Maschinen bedeuten, und zwar untereinander oder auch mit den Rechnern von Lieferanten, die entsprechende Hinweise geben können.
  • Sie kann auch die Virtualisierung von Teams bedeuten, die in verschiedenen Phasen der Herstellung arbeiten. Digitalisierung kann auf die Vermarktung bezogen werden:
  • Sie kann die Schaffung eines Webshops bedeuten.
  • Oder den Vertrieb über einen Online-Marktplatz.
  • Sie kann auch die Nutzung von Bannern, von Online-Kanälen – wie Streamingplattformen oder Social Media – zur Bewerbung des Produkts oder  Services implizieren. Schliesslich kann Digitalisierung auf das Produkt im engeren Sinne bezogen werden:
  • Sie kann z. B. die De-Materialisierung des Produkts bewirken wie bei Fahr- und Eintrittskarten, Audio- und Videoträgern oder «digitalen Zwillingen».
  • Sie kann in Form von Sensoren in ein Produkt eingebaut werden, um es mit zusätzlichen Möglichkeiten auszustatten, in ein System einzubinden, fernzusteuern etc.
  • Sie kann die Echtheit des Produkts bzw. die Zurückverfolgung dessen Ursprungs mittels Blockchain-Technologie sicherstellen.

Angesichts der Vielfalt an möglichen Ansatzpunkten für Digitalisierung ist es unabdingbar, die geschilderte betriebswirtschaftliche Logik als Gradmesser für den Auswahlprozess zu befolgen und der Versuchung zu widerstehen, sich auf die Möglichkeiten der Technologie einzuschiessen. Vorrang gilt demzufolge nicht dem, was angesagt ist, sondern dem, was für die Kundschaft einen Mehrwert und gegenüber der Konkurrenz einen Vorteil aus Sicht der Kunden darstellt. Die Gültigkeit dieses Prinzips ist übrigens nicht auf Digitalisierung beschränkt.

Freilich verbietet nichts, dass mehrere, vermutlich kleinere Initiativen gleichzeitig umgesetzt werden, vorausgesetzt, es sind entsprechende Ressourcen vorhanden. Wie aus dem Schema zu entnehmen ist, stehen Ressourcen und Fähigkeiten am Anfang der gezeichneten Betriebskette. Selbstverständlich muss nicht jede Kompetenz im Bereich der Digitalisierung inhouse verfügbar sein. Dennoch muss man sich für jeden einzuführenden Aspekt der Digitalisierung des Bedarfs an Ressourcen und Kompetenzen bewusst sein. Kommt man dabei zum Schluss, die Kompetenzen bei einem externen Partner abzuholen, so ist es dennoch ratsam, intern Wissen zu digitalen Lösungen aufzubauen, um mit den Spezialisten der Partnerunternehmungen kompetent und zielführend zusammenarbeiten zu können.

Spezifische Vorschläge für Lieferanten digitaler Lösungen

Die bisher entwickelte Argumentation lässt sich gut auf die Begebenheiten einer Lieferantenunternehmung übertragen, welche digitale Technologien bzw. Lösungen vermarktet. Mit Bezug auf die Blockdarstellung einer generischen Unternehmung (Grafik oben) könnte/sollte sich eine solche Unternehmung Fragen zu vier Themenbereichen stellen:

A) Zu welchem/n Wirkungsbereich/en meiner Kundenunternehmung leistet meine Technologie/Lösung einen Beitrag und welchen Einfluss hat sie auf ihre Erfolgschancen?

B) Welche Lösung wollen/sollen wir bieten? Standardisierte Lösungen geniessen den Vorteil der Skalierbarkeit, jedoch wird sich der Kunde dadurch von seinen Wettbewerbern nicht unterscheiden können. Personalisierbare Lösungen bieten begrenzte Differenzierungsmöglichkeiten. Erst mit einer massgeschneiderten Lösung wären die Bedingungen gegeben, einen spürbaren Mehrwert für den Kunden zu generieren. Das Verhältnis könnte sich entsprechend von einer reinen Markttransaktion in Richtung einer Kooperation entwickeln.

C) Welche After-Sales-Dienstleistungen wären sinnvoll, damit meine Kundschaft das volle Potenzial meiner Technologie/meiner Lösung nutzen kann? Die Einführung einer neuen Lösung ist ausnahmslos mit einer Lernkurve verbunden. Je schneller sich die Mitarbeitenden der Kundenunternehmung entlang der Lernkurve bewegen, desto grösser ist ihre Bereitschaft, die Lösung einzusetzen. Diesen Prozess zu begünstigen, sollte immer Ziel eines Lieferanten sein.

D) Auf welche Beziehungen innerhalb des Ökosystems meiner Kundenunternehmung und in welcher Weise wirkt sich meine Technologie/Lösung jeweils auf sie aus?

  • Wirtschaftliche Ökosysteme umfassen alle Akteure, die untereinander in Verbindung stehen, damit sektorspezifische Produkte/Leistungen realisiert bzw. erbracht werden können. Ein aktuelles Beispiel stellen wasserstoffbetriebene Vehikel dar. Damit sie fahren können, braucht es Fahrzeughersteller, Wasserstoffproduzenten, Treibstoffbeförderer, Tankstellen sowie spezialisierte Werkstätten. Die gleichzeitige Verfügbarkeit dieser Akteure und ihre koordinierte Wirkung ist Voraussetzung dafür, dass jeder einzelne von ihnen wirtschaften kann. Wichtige Erkenntnisse bringt es zum Beispiel, sich Gedanken über das Geschäftsmodell der Kundenkunden zu machen und somit, wie man mit der eigenen Lösung zum Gesamtmehrwert im Ökosystem beitragen kann.
  • Weitere wichtige Akteure sind Hersteller von Komplementärprodukten, mit denen die Kompatibilität und passende Schnittstellen gemeinsam definiert werden müssen.

Ein Lieferant, der – neben den Überlegungen zur eigenen Technologie respektive Lösung – gezielt an die Generierung von Wettbewerbsvorteilen für seine Kunden und sogar seiner Kundenkunden denkt, geniesst einen Vorsprung. Sowohl bei der Konzeption als auch bei der Vermarktung seiner Erzeugnisse.

(Erstpublikation in der Zeitschrift «Computerworld, 12-2020, 1-2021», www.computerworld.ch)