Eine Schule begibt sich auf Spurensuche
Die digitale Transformation ist in aller Munde, sie spielt sich vor unser aller Augen in einer alles durchdringenenden Vehemenz ab, welcher niemand entgeht. Doch was macht die digitale Transformation konkret aus uns? In welchem Kontext steht sie zu den Themenkreisen Qualität und Innovation? Eine Spurensuche in Industrie und Wirtschaft.
Die bekannten Weltunternehmen, die hinsichtlich digitale Produkte und Dienstleistungen führend sind, setzen vor allem bei kleinen physischen Produkten auf das Internet of Things: Massenware, wie steht es um die Qualität solcher Produkte? (Bild: Mario Gogh)
Wann wandeln sich Dinge grundlegend in einer Welt, die sich wegen des stabilitätssuchenden und veränderungsscheuen Wesens Mensch gar nicht ändern will? Veränderungsresistente Zustände wandeln sich unter der Bedingung, wenn der Einfluss von Aussen in seiner Einwirkungskraft auf ein System massiv ist. Um diese Aussage zu verstehen, ziehen wir den Vergleich zu Innovationen. Nicht jede Innovation ist gleichbedeutend. Streicht man ein Segelschiff von blau auf grün um, betätigt man sich auf bescheidenstem Niveau der Innovation – «Adaption» genannt. Baut jemand einen zusätzlichen Segelmasten ein, ist man bereits auf mittlerem Innovationsniveau – «Re-view». Dabei würden das bestehende Segelschiffsantriebskonzept (ohne Wind kein Antrieb) sowie damit verbundene Erfahrungen beibehalten werden. Ersetzt man hingegen ein vielmastiges Segelschiff durch ein Dampfschiff, wirkt man auf höchstem Innovationsniveau – «Re-think» genannt. Dabei verliesse man das bestehende Antriebskonzept und alle Erfahrungen ebenso. Der damalige Wechsel vom Segel- zum Dampfschiff bedeutete ein massiver Impact auf ein sogenanntes System.
Massive Veränderungen
«Re-think»-Innovationen bringen Veränderungen massiven Ausmasses mit sich – vor allem für die Menschen. Bei der technologischen Transformation vom Segel- zum Dampfschiff veränderten sich für den Matrosen Arbeitsinhalte sowie damit verbundene Kompetenzen grundlegend. In gleicher Manier wandelt sich das Arbeits- und Geschäftsumfeld für heutige Unternehmen in Industrie und Wirtschaft durch Digitalisierung. Die digitale Transformation verändert Hierarchiesysteme, Führungskulturen, Organisationstrukturen, Arbeitsprozesse und -inhalte, mitunter auch ganze Geschäftsmodelle. Hierarchien werden in der digitalen Wirtschaft flacher, Führungs- und Unternehmenskulturen demokratisieren sich – Entscheidungen trifft man gemeinsam. Vorgesetzte sind dies nicht mehr auf Dauer, sondern projekt- oder aufgabenbezogen temporalisiert. Nicht mehr der/die Machtbewussteste ist Chef, sondern der/die fachlich Kompetenteste aus dem Team – auch projektbezogen auf Zeit. Hinsichtlich des Führungsverhaltens von Chefs werden fortan Geschwindigkeit, Flexibilität, Agilität, Sinn für Zusammenarbeit, Gewähren von Autonomie, Blick für das Big Picture, wie auch der Umgang mit Risiken gefordert.
Arbeitsinhalte ändern sich wegen der Digitalisierung grundlegend, wie auch die damit verbundene Sprache. Früher war von Segelmasten, Planken und Windstille die Rede, später dann von Dampfkesseln, Kohleschaufeln und Verbrühungsgefahr. Heute wandelt sich die technische Sprache von Feinmechanik, Schraubenschlüssel und Mikrometer zu Server, Semantic Web, Big Data, Blockchain und Cloud – mithin von Deutsch auf Englisch. Physische Arbeit verändert sich in geistige Arbeit. Wir wandeln uns von der Arbeitsgesellschaft hin zur Informations- und weiter zur Wissensgesellschaft. Attestierte früher der Volksmund «Zeit ist Geld», lautet das heutige Mantra «Information ist Geld».
Der Ruf nach Umschulungen entspricht einem weitläufigen Narrativ. Veränderungen erfordern Anpassungen. Erhebliche Veränderungen – wie durch die Digitalisierung hervorgerufen – erfordern erhebliche Anpassungen. Wir alle müssen uns an die veränderten neuen Gegebenheiten des digitalen Zeitalters anpassen. Fakt aus Industrie- und Wirtschaftsgeschichte ist, dass die neue Technologie «Dampfmaschine» einst eine Effizienz- und Produktivitätssteigerung von Faktor 100 über Nacht herbeiführte. Digitalisierung in Massenproduktionssystemen eingesetzt, ersetzt auch heute – 250 Jahre später – ebenfalls Heere an Arbeitskräften, die sich de facto von wenig digitalisierten Firmen zu noch weniger digitalisierten Unternehmen auf der Flucht durch die Arbeitsmärkte beenden. Dies, weil der analoge Arbeitsmensch tatsächlich wenig digitalschulbar ist, denn die Digitalisierung lässt bei jungen Menschen, die damit aufwachsen, nachweislich andere Strukturen im Gehirn entstehen.
Qualität hat viele Definitionen
Wo spielt sich Digitalisierung überhaupt ab? Blickt man dazu auf die bekannten Weltunternehmen, die sich hinsichtlich digitaler Produkte und Dienstleistungen an der Spitze bewegen, wird vor allem bei physischen Produkten augenscheinlich, dass sich das Internet of Things (IoT) mit Produkten befasst, die in unseren Händen oder vor uns auf einem Tisch Platz finden. Die Digitalisierung als Werkzeug, als Werkzeugkiste verstanden, wie selbst auch dessen physischen Hilfsmittel, sind von kleiner Dimension und meist Massenprodukte. Mittels IoT können also nur gerade kleindimensionale Massenprodukte via digitaler Medien bestellt oder via Apps Dienstleistungen, wie das Lösen eines Bahntickets, wahrgenommen werden; nicht aber komplexe Grossprodukte wie Flugzeuge oder Hochseeschiffe.
Was hat die Digitalisierung mit Qualität zu tun? Qualität hat viele Definitionen, eine treffliche davon ist Ganzheitlichkeit. Bereits in der analogen Wirtschaftswelt wurde klar, dass, wer sein Augenmerk nicht nur auf Materie oder Fachliches, sondern vielmehr auch auf Methodisches, wie Projekt- und Qualitätsmanagement sowie auf den Menschen selbst, legt, wird nachhaltig und dauerhaft erfolgreich sein. Dieses Credo auf die heute digitale Wirtschaft übertragen, attestiert uns vice versa, wer nur die technologische Dimension im digitalen Wandel von Organisationen berücksichtigt und den Menschen dabei vergisst, wird scheitern, seine Organisation, wie auch das Geschäftsmodell zu transformieren. Gelungene digital transformierte Organisationen – momentan ist dies durchschnittlich nur jede zehnte Unternehmung in ganz Europa – zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Individuum, wie auch das Kollektiv selbst auf den Weg zur Digitalisierung mitgenommen haben.
Zudem gilt es, ethisch kulturelle Denk- und Handlungsweisen aus der analogen Wirtschaftswelt in die digitale Welt von heute und morgen zu vererben. Eine aufrichtige Gesinnung während der Ausübung des digitalen Geschäftsmodells, wie auch der wohlwollende Umgang mit seinen Mitmenschen, sind auch in der digitalen Wirtschaft ein entscheidender Eckpfeiler für Erfolg. Der digitale Wandel ist auch ein Charaktertest für uns Menschen. Mögen wir zusammenstehen und ihn gemeinsam, auch über unterschiedliche Generationen hinweg, bestehen.
(Erstpublikation: Technische Rundschau, Nr. 5/2024)