Prof. Dr. Andrea Sablone und Dr. Bernhard Frei 19.11.2024

Chancen der Kreislaufwirtschaft: Wie Führungskräfte diese erkennen und nutzen

Nachhaltigkeit ist ein zentrales Anliegen für moderne Unternehmen. Die Umgestaltung bestehender Geschäftsmodelle in Richtung Zirkularität bietet hierbei erhebliche Chancen. Dies erfordert jedoch eine strategische Neuausrichtung, die von der Unternehmensführung initiiert und geleitet werden muss. Im Trendreport werden Ansätze und Denkanstösse, wie solche Anpassungen aussehen könnten, von Andrea L. Sablone, Professor an der FFHS und Bernhard Frei, Dozent an verschiedenen Hochschulen der Schweiz, vorgestellt.

Drei Faktoren üben Druck auf Schweizer Unternehmungen aus, ihre Geschäftsmodelle nach Kriterien der Nachhaltigkeit umzugestalten: Erstens die gestiegene Sensibilität der Gesellschaft für Umweltthemen, für soziale Gerechtigkeit und für die Verantwortung der Unternehmungen für beides, zweitens die nationale und internationale Gesetzgebung sowie drittens die ökonomische Attraktivität zirkulärer Geschäftsmodelle. Wie aber die Einflüsse dieser Faktoren auf die strategische Ausrichtung der Unternehmungen interpretiert und welche Anpassungen entsprechend vorgenommen werden, hängt von den jeweiligen Führungskräften ab.

Prägende Einflüsse

Geänderte rechtliche Rahmenbedingungen verlangen von den Unternehmungen eine Umsetzung. Im Dezember 2021 hat der Bundesrat etwa die Gesetzesänderungen des indirekten Gegenvorschlags zur Volksinitiative für verantwortungsvolle Unternehmen in Kraft gesetzt. Seit dem Geschäftsjahr 2023 sind Publikumsgesellschaften, Banken und Versicherungen mit 500 oder mehr Mitarbeitenden und einer Bilanzsumme von mindestens 20 Millionen Franken oder einem Umsatz von mehr als 40 Millionen Franken zur Berichterstattung über nicht finanzielle Aspekte verpflichtet. Ab diesem Jahr müssen die Unternehmen, die unter den Geltungsbereich fallen, gemäss der Verordnung über die Klimaberichterstattung ebenso über ihre Auswirkungen auf das Klima berichten. Aufgrund des sozialen Drucks ist es zu erwarten, dass auch KMU zunehmend in die Pflicht genommen werden.

Gesellschaftliche Trends und technologische Errungenschaften geben dagegen nicht vor, wie die Unternehmungen damit umgehen müssen. Hier sind die persönlichen Neigungen der Führungskräfte entscheidend. Reaktive Führungskräfte werden kaum oder nur unter Zwang die strategische Ausrichtung ihres Unternehmens überdenken. Aktive Führungskräfte werden mit dem Markt – Konkurrenten, Kunden, Lieferanten – gehen, um Veränderungen an Prozessen und Produkten oder Dienstleistungen vorzunehmen. Unternehmerische Führungskräfte werden schliesslich das Geschäftsmodell ihrer Organisation proaktiv umgestalten. Dieser Beitrag zeigt Möglichkeiten und Grenzen auf, die sich aus den genannten sozioökonomischen Veränderungen für Schweizer KMU ergeben. Ziel ist es, Führungskräfte dazu zu inspirieren, die Chancen und Risiken für die eigene Organisation zu entdecken und diese in Anbetracht der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und Fähigkeiten zu nutzen.

Erster Schritt: Effizienzsteigerung

Ein erster, leicht verständlicher Schritt zu einer nachhaltigeren Produktion besteht in der Steigerung der Effizienz. Dies lässt sich durch das Ausmerzen von Verschwendung und Abfällen und durch die Reduktion der eingesetzten Ressourcen pro hergestelltes Produkt bewerkstelligen. Nichts Neues, könnte man erwidern, da dies seit Längerem durch bewährte Methoden, wie Total Quality Management, Lean Management und Six Sigma, abgedeckt ist. Gleichwohl besteht zwischen der Verfügbarkeit einer Methode und ihrer Anwendung eine offensichtliche Kluft, sodass nicht wenige Unternehmungen diese Methoden aus Kosten- und Ressourcengründen nicht oder nur zögerlich umsetzen, geschweige denn ihren vollen Nutzen daraus ziehen. In dieser Diskussion gilt es inzwischen, die geballte Wirkung der genannten Methoden in Zusammenhang mit der Anwendung digitaler Technologien zu berücksichtigen. Damit erschliessen sich nämlich bisher ungeahnte Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung und es entstehen Gelegenheiten für weitsichtige Führungskräfte, das Geschäftsmodell ihrer Organisationen wettbewerbsfähiger umzugestalten. Zwei Erläuterungen dazu:

1. Das Geschäftsmodell umschreibt beides: die Art, Kundennutzen zu generieren (im besten Fall mehr, qualitativ besser, günstiger, schneller als die Konkurrenz), sowie die Weise der Unternehmung, daraus Profit zu schlagen.

2. Die Nutzung digitaler Technologien markiert den Übergang von rein kostensenkenden Massnahmen hin zu ertragssteigenden Innovationen.

Weitere Schritte zu einer nachhaltigen Produktion

Wenn der erste Schritt die Phasen der Herstellung eines Produktes betrifft, geht es im Zweiten um das Leben eines Produktes nach dem Verlassen der Fabrik beziehungsweise um die Form dessen Nutzung. In der Fachliteratur sind zwei Ansätze bekannt, wie Unternehmungen in dieser Phase nachhaltiger werden können. Der eine wird «Product as a service» (PaaS) genannt und beschreibt den Vertrag, mit dem ein Kunde nicht das Eigentum des Produktes, sondern ein Recht erwirbt, es während einer gewissen Zeit und in einem gewissen Umfang zu benutzen. Bekannt sind die Geschäftspraktiken von Rolls Royce, mit denen den Fluggesellschaften die Nutzungsstunden ihrer Turbinen verrechnet werden (Power by the hour). In jüngster Zeit hat Michelin einen ähnlichen Ansatz mit ihren Pneus für Lkws an Flottenbetreiber angeboten. Einige Autoproduzenten und Pure-Play-Wettbewerber, wie Carvolution, versuchen seit einiger Zeit, dasselbe mit Autos zu tun, scheinen aber bisher noch bescheidene Erfolge zu erzielen. Eine Variante dieses Ansatzes betreibt seit Jahren die Carsharing-Genossenschaft Mobility, die aber hauptsächlich kurzzeitige Vermietungen statt ausschliesslicher Nutzung anbietet. Die Beispiele solcher Verwendungen ein und desselben Produktes durch mehrere Nutzer mehren sich in den letzten Jahren und umfassen Kostümverleih, Kinderwagen, online Rechen- und Speicherkapazität und sogar Produktionsanlagen, die Unternehmungen mit Überkapazitäten Dritten gegen Entgelt zur Verfügung stellen.

Ausschlaggebend für den Erfolg dieser Ertragsmodelle scheint die zeitliche Beschränkung der Nutzung. Wenn das Produkt auf Dauer benutzt wird, scheinen die Nutzer den Kauf vorzuziehen. Das zeigt auch der Versuch von Interface, eine in Atlanta ansässige Unternehmung, die gewerbliche Bodenbeläge nach dem PaaS-Modell anbieten wollte. Selbst nach sieben Jahren zog es die überwältigende Mehrheit der Kunden vor, die Teppiche zu kaufen, statt sie zu leasen. Die Vorteile eines Leasings waren nicht klar oder gross genug, um die hohen monatlichen Gebühren zu rechtfertigen. Wozu also bemühen sich Unternehmungen, ein PaaSModell bei exklusiver Nutzung durchzusetzen? Wie beim Leasing wäre hier eine wesentliche Minderung der Anfangsinvestition ein Vorteil für den Kunden. Die Anbieterin hat wiederum die Möglichkeit, aufgrund des verbleibenden Eigentumsrechts, über Wartung, Instandsetzung sowie Auf- und Nachrüstung eines Produktes zu bestimmen und somit seine Lebensdauer zu optimieren. Es wird also die Voraussetzung geschaffen für einen zweiten Ansatz.

Dieser zweite Ansatz zur Steigerung der Nachhaltigkeit wird in der Fachliteratur «Product life-extension» (PLE) genannt. Damit sind alle Massnahmen gemeint, mit denen die Lebensdauer eines Produktes verlängert werden soll. Nichts Neues sind Wartungsverträge, die zum Beispiel Autoproduzenten für die ersten 100 000 gefahrenen Kilometer oder während 10 Jahre ab dem Kauf anbieten. Neuer sind hingegen die Möglichkeiten einer vorausschauenden Wartung, die, anders als die vorbeugende Wartung, nicht nach einem vordefinierten Plan abläuft, sondern dank des Einsatzes von Sensoren und weiterer digitaler Technologie Eingriffe nach Bedarf vorsieht. Solche Ansätze finden Anwendung bei Aufzügen, Rolltreppen, Seilbahnen, ebenso im Schienenverkehr, sowie bei Industrie- und Windkraftanlagen. Wie umfangreich und eingehend die Interventionen sind, variiert je nach Produkt, Technik und Fall. Im Firmengeschäft (B2B) eröffnet der PLE-Ansatz neben der Möglichkeit, die Wartungsleistungen zu verrechnen, noch einen zweiten wirtschaftlichen Vorteil: Durch die Erweiterung der sequenziellen Logistikkette in ein zirkuläres Modell ergibt sich für den Lieferanten ein strategisches «Lock-in» in der Wertschöpfung seines Kunden, weil die zeitliche Wertigkeit seines Beitrages beim Kunden verlängert wird. Damit erhält der existierende Lieferant einen Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Marktbegleitern. Einschlägige Branchennormen und firmenspezifische Qualifizierungen verstärken diesen Effekt zusätzlich.

Schritte, um «den Kreis» zu schliessen

Der dritte Schritt umfasst Massnahmen, die eine Unternehmung auf dem Weg zu einem zirkulären Geschäftsmodell vornehmen kann. Diese betreffen den Umgang mit dem Produkt nach Beendigung seines normalen Lebenszyklus. In dieser Phase kommen sowohl eine zweite Kategorie von Ausprägungen des beschriebenen PLE-Ansatzes vor – die wir der Klarheit halber als PLE Plus bezeichnen – wie auch Massnahmen, die mit dem in der Literatur als «Design for Recycling» (DfR) kodifizierten Ansatz einhergehen. Zu den PLE Plus gehörenden Möglichkeiten zählt die Wiederverwertung alter, abgenutzter und zum Teil kaputter Produkte, die repariert, wieder instandgesetzt oder auf dem neusten Stand gebracht werden. Einleuchtende Beispiele dafür liefern Patagonia mit ihrer «worn-wear» Outdoorbekleidung, Bosch mit der Wiederaufbereitung ihrer gebrauchten Werkzeugapparate (refurbished), Fairphone mit ihren Smartphones, bei denen einzelne Komponenten wie der Bildschirm, die Batterie und die Kamera leicht ausgetauscht werden können, und zumindest teilweise auch Tesla, welche die Software ihrer Fahrzeuge wiederkehrend aktualisiert. Allgemein zielen PLE-Massnahmen darauf ab, durch die Wiederverwendung des Produkts, den Wert der in den Herstellungsprozess eingebrachten Materialien und Energie zu erhöhen. Der Wert muss aber nicht immer greifbar sein, wie das Beispiel von Secondhand-Designerkleidung zeigt.

Allerdings kommen auch wiederaufbereitete und aktualisierte Produkte mal zum endgültigen Ende ihrer Nutzdauer. Das gilt umso mehr für Produkte, denen keine Massnahme zu einem zweiten Leben verhelfen kann. Was geschieht dann mit ihnen? Entgegen der Kreislaufwirtschaft gehen sie in die Kehrichtverbrennungsanlage oder in die Mülldeponien. Im ersten Fall wird wenigstens Energie aus dem Produkt zurückgewonnen, im zweiten Fall wird Land damit belegt und im schlimmsten Fall könnte es deswegen zu Bodenverschmutzungen kommen. Es ist bedenklich, dass ein solches Schicksal gerade die Schaufeln von Windturbinen betrifft, die aufgrund ihrer Konstruktion und Beschaffenheit nicht anders behandelt werden können. Eine konsequente Ausrichtung auf Zirkularität erfordert eine Zusatzanstrengung beim Entwurf hinsichtlich Baus und Beschaffenheit eines Produktes, sodass die Prozesse der Zerlegung und Zurückgewinnung der Rohstoffe, aus denen das Produkt besteht, nach endgültigem Ablauf seiner Nutzdauer erfolgreich durchgeführt werden können. Deswegen spricht man von Design for Recycling. Ein zirkuläres Geschäftsmodell ist nämlich nur dann geschlossen und somit durchgehend nachhaltig, wenn der Wert der Produktbestandteile wirtschaftlich zurückgewonnen werden kann, zumindest teilweise.

Je grösser der Wert eines Produkts ist – sei es in Form seines Marktwerts, der bei seiner Herstellung verbrauchten Ressourcen oder des Preises, den Kunden für ein umweltfreundliches Produkt zahlen –, desto grösser ist das Potenzial für die Schaffung eines Kreislaufgeschäftsmodells rund um das Produkt. Externe Faktoren wie Vorschriften, Sekundärmärkte für gebrauchte Produkte oder aktive Märkte für Rohstoffkomponenten werden ebenfalls bestimmen, wie viel Wert Hersteller aus einem Kreislaufmodell ziehen können.

Fazit: Sich an Chancen wagen

Unternehmungen müssen gesetzlichen Pflichten nachkommen, sie sollten dem gesellschaftlichen Druck Rechnung tragen und sie können sich die Chancen der Kreislaufwirtschaft zunutze machen, um ihre Wettbewerbsposition zu verbessern und um gleichzeitig den neuen wie wandelbaren Bedürfnissen der Endkunden entgegenzukommen. Das bedeutet, die strategische Ausrichtung einer Unternehmung zu prägen; und das ist die Aufgabe der obersten Führungskräfte. Es ist die ureigenste Frage des Unternehmertums, sich an die Chancen zu wagen, welche die Veränderungen in der Umwelt entstehen lassen. Nicht selten braucht es auch neue Fähigkeiten in der Unternehmung, um sie erfolgreich wahrzunehmen.

(Erstpublikation: Technische Rundschau, Nr. 10/2024)

Dr. Bernhard Frei

Dozent für Strategie, Innovation und Digitalisierung an diversen Hochschulen der Schweiz und Direktor Corporate Development, Prose AG.