Glücklich im Job, aber trotzdem krank?
Über psychische Belastungen und Stress am Arbeitsplatz wird derzeit viel geschrieben und diskutiert. Weniger im Mittelpunkt stehen allerdings Ursachen, die weniger mit der betroffenen Person selbst zu tun haben, sondern mit dem Verhältnis von Person, ihrer Rolle am Arbeitsplatz und der Arbeitstätigkeit. Eine Forschungsarbeit hat untersucht, wie Inkohärenzen in diesem Verhältnis krank machend wirken können.
Ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin, nennen wir diese Person A, ist gut ausgebildet, fachlich kompetent und hat einen Job, der eigentlich als «erfüllend» bezeichnet könnte. Dennoch entspricht die Entlöhnung nicht der Höhe, die A für diese Qualifikation eigentlich erwarten dürfte. Die Person isst zwar gesund, treibt regelmässig Sport, hat einen tiefen Body-Mass-Index (BMI), ist aber chronisch unzufrieden, ängstlich und unglücklich. Und das lässt keine entsprechend gesunde Entwicklung erwarten. Denn die erwartete Entwicklung ist eine Folge sogenannter struktureller Inkohärenzen am Arbeitsplatz.
Die Grundlagen von «Kohärenz»
Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die einzelne Person. Diese befindet sich an ihrem Arbeitsplatz in einem Netz von Austauschbeziehungen. Sie empfängt Aufträge und gibt Ausgeführtes weiter. Um diesen Prozess ausführen zu können, hat sie Erwartungen und nimmt die Gegebenheiten der unmittelbaren Umgebung des Arbeitsplatzes wahr. Sie erlebt ihren Arbeitsplatz, also das Empfangen von Aufträgen und das Weitergeben von Ausgeführtem, über das Verhältnis zwischen den Erwartungen und den Gegebenheiten der Umgebung. In der Soziologie wird dies als Rolle bezeichnet. Im Betrieb wird eine Rolle beispielsweise ausgeschrieben und durch geeignete Personen besetzt. Die Besetzung wird durch einen Arbeitsvertrag festgehalten, ein Vertrag zwischen der Person und der Firma. Durch diese Tatsache werden für das Rollenhandeln der Person Erwartungen festgelegt, die für sie verbindlich sind. Solche Erwartungen geben einer Person Sicherheit, Planbarkeit etc. Mit der Rolle wird auch eine Vorstellung festgehalten, was die Person in ihre Rollenumgebung durch eigenes Arbeiten investieren soll und was sie dafür als Gegenleistung empfangen darf. Da die Rollen in der Regel als ideale Verhältnisse festgelegt werden, ist mit dieser Vorstellung auch die Idee verbunden, was eine Person als Rollenträgerin oder Rollenträger erwarten darf hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den Investitionen und den Gegenleistungen. Im idealen Fall, weil die Rolle auch als Ideal verbindlich festgelegt ist, erwarten die Personen ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen den Investitionen und den Gegenleistungen. Dies wird hier als Kohärenz bezeichnet. Die Kohärenz wird auch durch die Tatsache unterstützt, welche der Person als Orientierungsrahmen dient, dass das so etwas wie ein allgemein verbindliches Marktverhältnis zwischen Investition und Gegenleistung ist. In diesem Sinn nimmt die Person das Marktverhältnis als selbstverständliche Rahmensituation wahr.
Was sind Inkohärenzen?
Die Welt bes
teht jedoch nicht aus Idealen und somit nicht nur aus kohärenten Verhältnissen zwischen Investitionen und Gegenleistungen, wie am anfangs erwähnten Beispiel ersichtlich. Jede Abweichung von den idealen Kohärenzverhältnissen wird hier als Inkohärenz bezeichnet. Etwa:
- Die Investition ist grösser als die Gegenleistung
- Grössere Gegenleistung im Vergleich zur Investition
Inkohärenzen stellen also Abweichungen von der Selbstverständlichkeit und einen Bruch mit der Erwartung dar. Ein solcher Bruch stört den Alltag des Rollenhandelns, nervt unter Umständen, löst Angst oder Traurigkeit aus. Es kommt damit zu Spannungen, die sich auf zweierlei Arten äussern können:
- Die Spannungen können nach aussen getragen werden, etwa durch eine Form des Zusammenschlusses von Personen in der gleichen Situation zum Protest, oder
- die Spannungen können nach innen getragen werden, etwa in Form von psychosomatischen Reaktionen. Gesundheitsrelevant sind solche Arten von Spannungen immer dann, wenn Formen der Angst mit im Spiel sind.
Was Inkohärenzen auslösen können
Solche strukturellen Inkohärenzen sind ein oft übersehenes Thema in der Diskussion um die Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz. Es fehlt die Untersuchung der strukturellen Bedingungen der Inkohärenz sowie das Nachvollziehen von Transformationsprozessen in positive und negative Emotionen. Ebenfalls kaum untersucht wurde bisher, wie diese Emotionen den Gesundheitsstatus beeinflussen. Wir haben deshalb mehrere Hypothesen aufgestellt und untersucht:
- Ist eine Investition überproportional im Verhältnis zur bezogenen Gegenleistung (Erwartungen grösser als Gegenleistungen), umso wahrscheinlicher sind negative gesundheitliche Reaktionen, wenn Spannungen nach innen getragen werden.
- Ist das Interesse an einer Arbeit zwar sehr hoch, kann aber durch den vorgegebenen Arbeitsrhythmus nicht erfüllt werden (Interesse grösser als Intensität), umso wahrscheinlicher sind negative gesundheitliche Reaktionen.
- Wird viel Arbeitszeit investiert, aber die Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen entspricht nicht den Erwartungen der Person («workinghourmismatch»; Intensität grösser als Interesse), sind negative gesundheitliche Reaktionen zu erwarten, je grösser diese Inkohärenz ist.
Die Untersuchung dieser Hypothesen stellte nun verschiedene Tendenzen fest, die für die Diskussion des Gesundheitsmanagements interessant sind. Bei der Hypothese «Erwartungen grösser als Gegenleistung» hat es sich gezeigt, dass gesundheitsbezogene Aktivitäten (etwa Sport) die negativen Emotionen nicht abzubauen vermögen und diese dennoch in einen geringeren Gesundheitsstatus konvertiert werden.
Personen, deren Gegenleistung grösser ist als die Erwartung, weisen die tiefsten (besten) Mittelwerte beim Gesundheitsstatus auf. Personen, deren Erwartung grösser ist als die Gegenleistung, haben die höchsten (schlechtesten) Mittelwerte bezüglich des Gesundheitsstatus. Am deutlichsten zeigt sich dann, wenn eine höhere Bildung einem überproportional kleineren Einkommen gegenübersteht. Dieses Beispiel zeigt, dass entsprechende gesundheitsbezogene Massnahmen die Transformation und die Umwandlung der strukturellen Inkohärenzen in einen schlechten Gesundheitsstatus wenig zu beeinflussen vermögen. Das heisst: Trotz gesundheitsfördernden Massnahmen bleibt man faktisch «krank».
In den beiden anderen Hypothesen sind die Ergebnisse weniger paradox: Bei Inkohärenzen, die auf eine erhöhte Belastung der Personen in der Rollenausübung hinweisen, entsteht über die Transformation der Spannungen der Inkohärenz in emotionale Zustände und die weitere Konversion in den entsprechenden geringeren Gesundheitsstatus eine zunehmende Beanspruchung, die über Erholung wenig kompensiert werden kann. Nicht kompensieren können heisst nichts anderes, als dass sich gesundheitliche Nachteile einspielen, die ihren Anfang in der erlebten Spannung der Inkohärenz haben.
Wie können Inkohärenzen ausgeräumt werden?
Wir haben erfahren, dass strukturelle Inkohärenzen von den Personen als spannungsgeladen erlebt werden. Dieses Erleben kann sich mit Regelmässigkeit in negativen Emotionen niederschlagen, die auch mit Angst zu tun haben. Solche Emotionen sind mit einem negativen Gesundheitsstatus assoziiert. Diese Erkenntnisse bedeuten, dass ein negativer Gesundheitsstatus auch als Beeinträchtigung der Fähigkeit einer Person, die Rollen effektiv auszuführen und den Rollenerwartungen entsprechend zu organisieren, verstanden werden muss. Den Personen im Spannungsfeld der Inkohärenz ist demzufolge die Möglichkeit genommen, die Rollentätigkeit im «normalen» Sinne auszuführen, so wie es die Personen können, welche eine kohärente Situation erleben.
Da stellt sich die Frage, was der Arbeitgeber dagegen tun kann. Ohne auf konkrete Einzelheiten der Arbeitsverhältnisse einzugehen, können folgende Überlegungen angestellt werden: Die Ausgewogenheit zwischen Erwartungen und Gegenleistungen sollte hergestellt werden, was aus verschiedenen Gründen nicht immer machbar ist. Wenn nicht, stellt sich die Frage, was es bringen würde, die Spannungen aus der Rolle hinauszutragen. Die negativen Emotionen können dann möglicherweise verhindert werden, indem sich der Betrieb als «Mobilisierungssystem» konstituiert. Das wird zum Beispiel unter dem Stichwort «neue Arbeitswelt» diskutiert.
(Erstpublikation: Zeitschrift «Organisator, 10/2019»)