Dr. Hagen Worch 05.10.2020

Traction: Schnelles Kundenwachstum durch agile Marktentwicklung

Traction ist ein agiler Marktentwicklungsansatz, mit dem innovative Unternehmen schnelles Kundenwachstum generieren können. Die grundlegende Idee besteht darin, agile Methoden neben der Produktentwicklung auch in der Kundenakquise einzusetzen.

Der Tractionansatz ist ein systematisches Vorgehen zur Auswahl optimaler Marketingkanäle. Mithilfe eines iterativen Prozesses können Unternehmen ideale Kundengruppen identifizieren, ansprechen und so ein schnelles Wachstum für den Absatz neuer Produkte und Dienstleistungen erzielen. Firmen können darüber hinaus kürzere Time-to-Market-Zeiten mit dem Ansatz realisieren. Die frühzeitige Eruierung der Marktseite erlaubt eine zielgerichtete Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen, wodurch das Risiko gesenkt wird, am Kundenbedarf vorbeizuentwickeln. Der Traction-Ansatz umfasst drei Hauptmerkmale:

Zeitgleiche Produkt- und Marktentwicklung
Die Kundenakquise erfolgt zeitgleich mit der Produktentwicklung und umfasst etwa den gleichen Zeitaufwand. Die Parallelität von Produkt- und Marktentwicklung wird als 50/50-Regel bezeichnet. Dabei wird möglichst früh eine Kundenbasis für ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung aufgebaut. Dies erlaubt einer Firma, die Stärke der Kundenbindungen zu testen und in der Produktentwicklung entsprechend darauf zu reagieren.

Optimalen Marketingkanal auswählen
Aus 20 möglichen Marketingkanälen werden in einem systematischen Auswahl- und Bewertungsverfahren die drei erfolgversprechendsten identifiziert. Diese werden auf ihre Wirksamkeit hinsichtlich der Kundengewinnung getestet. Aufgrund der Testergebnisse kann ein Unternehmen den optimalen Vermarktungskanal wählen. Die 20 Kanäle umfassen sowohl Online-Kanäle wie die Nutzung von Social Media und digitalen Plattformen als auch Offline-Kanäle wie traditionelle Plakatwerbung und die Präsentation an Messen. Auch informelle Netzwerke werden explizit in die Erwägungen einbezogen.

Kundenwachstum kontinuierlich analysieren
Das Kundenwachstum wird kontinuierlich quantifiziert. Zeigt etwa der gewählte Vermarktungskanal Anzeichen einer Sättigung, kann ein Unternehmen mit einer Veränderung des optimalen Marketingkanals darauf reagieren. Der für eine neue Wachstumsphase adäquate Marketingkanal wird wiederum, wie oben beschrieben, durch eine Auswahl der drei erfolgversprechendsten Kanäle und anschliessende Tests gefunden.

Mehrwert von Innovationen verstehen

Studien des Instituts für Management und Innovation (IMI) der Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) zeigen, dass die Unternehmenspraxis die agilen Marktentwicklungsansätze zu wenig nutzt. Ein Grund besteht darin, dass der Tractionansatz vor allem für Venture-Capital-finanzierte Start-ups entwickelt wurde und damit für die wenigsten Schweizer Unternehmen 1:1 umsetzbar ist.

Untersuchungen des IMI deuten allerdings darauf hin, dass sich der Traction-Ansatz durch Weiterentwicklungen für Schweizer Start-ups und KMU gut anpassen und praktikabel anwendbar machen lässt. So ist es entscheidend, die strategische Stossrichtung für die Markteinführung von Innovationen vor der Umsetzung eines Traction-Projektes zu klären. Dazu gehört auch, die Kundenzielgruppe genau festzulegen und den durch eine Innovation generierten Mehrwert für diese Gruppe im Detail zu verstehen. Dadurch lässt sich ein Traction-Ziel, das heisst ein Kundenwachstumsziel, festlegen und mögliche Marketingmassnahmen entwickeln, die das Potenzial haben, das festgelegte Wachstumsziel zu erreichen.

Relevanz für digitale Plattformen

Pilotumsetzungen des Ansatzes zeigen die hohe Relevanz von Traction für digitale Plattformen. Für das erfolgreiche Wachstum digitaler Plattformen ist es ausschlaggebend, dass simultan ein Mehrwert sowohl für die Anbieter- als auch
die Nachfragerseite generiert wird. Weil der Mehrwert einer Plattform für Anbieter und Nachfrager häufig unterschiedlich ist, müssen für beide Marktseiten eigene Strategien für die Kundenakquise entwickelt und implementiert werden. Hier setzt der Traction-Ansatz an. Er ermöglicht, durch ein agiles Vorgehen sowohl den Anbieter- als auch den Nachfragermarkt parallel zu entwickeln. In dem iterativen Prozess treten die komplexen Wechselwirkungen zwischen beiden Marktseiten zutage. Unternehmen können dann ein entsprechend werthaltiges Angebot entwickeln.

Neben Anbietern und Nachfragern spielen zunehmend auch Plattformpartner eine bedeutende Rolle. Häufig treten sie als Werbepartner auf oder generieren einen Zusatznutzen für die Akteure einer digitalen Plattform. Bei einigen Plattformen erwirtschaften die Partner den Hauptumsatz. Erfahrungen aus Projekten des IMI zeigen, dass die konsequente Anwendung von Traction dabei helfen kann, die zentrale Bedeutung der Plattformpartner zu erkennen und zu nutzen. Im Rahmen eines Traction-Projektes ergab sich z.B., dass die Marketinganstrengungen auf die Akquise der Plattformpartner gerichtet werden müssen. Als Ergebnis dieser Refokussierung und der entsprechenden Auswahl der Marketingkanäle konnte die Plattform substanziell wachsen.

Heterogene Kundengruppen

Mit einer Pilotimplementierung des Ansatzes bei einem Plattformunternehmen aus der Lebensmittelbranche konnte ein weiterer wichtiger Aspekt herausgearbeitet werden: Während bei Start-ups häufig eine homogene, hinreichend grosse
Zielgruppe im Fokus der Innovationsvermarktung steht, haben viele KMU bereits existierende Kundengruppen, deren Interesse für eine Innovation geweckt werden soll. Diese Kundengruppen sind tendenziell heterogen. Sie unterscheiden sich somit in den Marketingkanälen, über die sie am besten ansprechbar sind. Demnach hängt die Umsetzung optimaler Marketingmassnahmen häufig von der Nutzung verschiedener aufeinander abgestimmter Marketingkanäle ab. Erst durch ihre Interaktion erzeugen sie wichtige Synergien, die zu einem substanziellen Kundenwachstum beitragen und so helfen, das Traction-Ziel zu erreichen.

Auch bedienen KMU mit ihren Innovationen häufig spezialisierte Kundensegmente und Marktnischen. Somit müssen sie explizit heterogene Kundensegmente ansprechen, um auf eine hinreichende Marktgrösse für die Lancierung einer Innovation zu kommen. Dies erfordert die Nutzung unterschiedlicher Marketingkanäle. Für Start-ups und KMU haben daher gut aufeinander abgestimmte Kommunikations- und Marketingkanäle eine grosse Bedeutung. Lediglich einen optimalen Marketingkanal zu bedienen ist üblicherweise nicht zielführend.

Fazit

Traction ist ein Ansatz zur systematischen Identifizierung optimaler Marketingkanäle. Durch die Umsetzung eines agilen Vorgehens in der Marktentwicklung können Unternehmen ein schnelleres Kundenwachstum für innovative Produkte und Dienstleistungen generieren. Für Schweizer Start-ups und KMU bietet dieser Ansatz grosses Potenzial, das bisher jedoch zu wenig genutzt wird. Mit Traction können Unternehmen das meist vorhandene exzellente technische Fachwissen mit einem kundenbezogenen Marktdenken verstärken und erweitern. Eine agile Marktentwicklung verbessert so den Innovationserfolg und schafft die Voraussetzung für eine erfolgreiche Stärkung der Wettbewerbsposition.

(Erstpublikation in der Zeitschrift «Organisator, 9/2020»)