Dr. Bernhard Frei, Dr. Andrea L. Sablone 08.06.2021

Powerplay im Innovationsmanagement

Auswahl, Priorisierung und Ressourcenausstattung von Innovationsvorhaben stellen drei erhebliche Herausforderungen für Entscheidungsträger dar. Eine Klassifizierung der Vorhaben nach ihrer strategischen Bedeutung und Lebenszyklusphase verhelfen zu Transparenz und Sachlichkeit.

Etliche Produktionsunternehmungen, darunter nicht wenige KMU, beherrschen verschiedene, meistens verwandte Technologien, die sie gekonnt in unterschiedlichen Branchen einsetzen. Auf dem Wachstumsweg zu solchen Diversifikationen und nach deren Einführung sind Unternehmungen mit Herausforderungen konfrontiert, die sich zwar viele wünschen, weil sie mit Wachstum verbunden sind, jedoch ebenso viele auch überfordern, wenn sie ihnen dann tatsächlich begegnen.

Herausforderungen

Der Kern der Herausforderungen lässt sich in der Frage zusammenfassen: Wie soll man die verhältnismässig knappen Unternehmensressourcen den Initiativen zuteilen, die zur Realisierung von Wachstumschancen dienen?

Drei Faktoren spielen diesbezüglich eine wesentliche Rolle. 

Unternehmer und Geschäftsleiter

Zunächst sind es die vollblütigen Unternehmer und wachstumsgeweihten Geschäftsleitenden an der Spitze erfolgreicher Betriebe. Sie weisen eine ausgesprochene Neigung auf, neue Geschäftschancen aufzuspüren und entsprechende Innovationen zu lancieren. Genauso schnell aber lassen sie von den Unterfangen ab, wenn der erwartete Erfolg nicht einsetzt, und manchmal auch schon, wenn ihnen eine attraktivere Chance zuwinkt.

Was gerne als Auszeichnung für Dynamik und gut für das Wachstum der Unternehmungen gilt, stellt die mit der Umsetzung der Innovationen betrauten Betriebsorganisationenvor Zerreissproben. Das unstete Verhalten der Geschäftsleitung erscheint vielen Mitarbeitenden erratisch: Das abrupte Liegenlassen halb fertiger Projekte wirkt demotivierend, lässt Marktchancen verpassen und Budgets zu Makulatur werden.

Kadermitarbeiter

Ein zweiter Faktor betrifft Kadermitarbeitende, spezifisch Markt- und Produktleitende. Dank ihres Charismas, ihrer Beziehungen und ihrer Überzeugungskraft finden manche besser als andere Wege, die erforderlichen Ressourcen zu erhalten, um die Initiativen umzusetzen, für die sie zuständig beziehungsweise die für ihren Markt besonders wichtig sind. Auch daraus entstehen interne Friktionen, Frustrationen und insgesamt eine Verschlechterung des Betriebsklimas, die wiederum eine Erhöhung der Fluktuation zur Folge hat.

Fehlende Kriterien und Methoden

Der dritte Faktor hängt eng mit den vorherigen zusammen und bestärkt, dass die persönlichkeitsbezogenen Faktoren überwiegen: In der Unternehmung fehlt es an Kriterien und Methoden, um die Ressourcenallokation für diese Innovationen transparent, nachvollziehbar und vor allem nicht schlicht intuitiv und subjektiv vorzunehmen. Der Einführung solcher Werkzeuge widersetzen sich manche erfolgreiche KMU-Leitende, denn sie wittern eine Drosselung der unternehmerischen Dynamik ihres Betriebs.

Einige gehen so weit, dass sie eher Doppelspurigkeiten zulassen und beispielsweise mehrere Fachkräfte anstellen, die nicht voll ausgelastet sind, als dass sie Engpässe in Kauf nehmen. Dieses Vorgehen bringt nur so weit Erfolg, bis die Unternehmung eine gewisse Dimension übersteigt und die Nachteile dieser Ineffizienzen überwiegen.

Intuition auf solider Basis

Eine strategisch passende Allokation der Ressourcen darf nicht zulasten der unternehmerischen Intuition gehen. Letztere soll vielmehr eine solidere Grundlage erhalten, die dazu dient, die Qualität der getroffenen Entscheidungen zu steigern. Ein wesentlicher Schritt dorthin besteht darin, die unternehmerischen Entscheidungen in relevante, ineinandergreifende betriebswirtschaftliche Dimensionen zu entwirren. Die fünf wichtigsten in diesem Zusammenhang sind

  • Die Technologien, die eine Unternehmung beherrscht und produktiv einsetzen kann.
  • Die Anwendungsbereiche, in denen die Unternehmung mit ihren Angeboten präsent ist beziehungsweise eintreten will. Man kann noch feiner unterscheiden, indem man Branche und geografische Märkte auseinanderhält (beispielsweise Automotive in Japan, USA)
  • Die Lebensphase einer Technologie in einem bestimmten Anwendungsbereich. Wie das Beispiel erläutern wird, kann dieselbe Technologie in einem Anwendungsbereich (Branche/Markt) schon in die Reifephase gelangt sein und in einem anderen erst eingeführt werden.
  • Das geschätzte Potenzial in jeder Technologie und den Kombinationen der Anwendungsbereiche.
  • Der Bedarf an Ressourcen (Finanzen und Spezialisten), um die Voraussetzungen zur Erschliessung des geschätzten Potenzials in einer Technologie/Anwendungskombination zu realisieren. Diese Voraussetzungen werden in Innovationsprojekten und Wachstumsinitiativen geschaffen.

Es kommt Unternehmern zugute, wenn sie diese fünf Dimensionen in einem einzigen Werkzeug in Bezug auf ihren Betrieb aufzeigen. Im Folgenden stellen die Autoren eine konkrete Anwendung des konzeptionellen Werkzeugs dar, in dem die Dimensionen grafisch dargestellt werden.

Eine konkrete Anwendung

Die Entwicklung dieses Werkzeugs fand beim weltgrössten Hersteller von elektrischen Heizelementen mit über vier Milliarden Euro Umsatz und 8500 Mitarbeitenden statt. Der Auslöser war die Schwierigkeit, Fachressourcen zwischen mehreren attraktiven Innovationsmöglichkeiten passend zu verteilen. Dem Marktverantwortlichen «Railway» war es gelungen, die neuste Technologie der Unternehmung für die Neuausstattung der ganzen New-York-Metro-Flotte zu platzieren.

Die Umsetzung erforderte Entwicklungsingenieure und erfahrene Projektleiter. Der technische Direktor hatte aber die Ressourcen aus seinem Bereich dem Leiter «Space» zugesprochen, der sie für ein innovatives, chinesisches Satellitenprojekt benötigte. Die Intervention beim CEO und dem Verwaltungsratspräsidenten verkomplizierte die Ressourcenverteilung. Der Überstundenaufwand stieg weiter an und die Fluktuation in der Technik nahm bedrohliche Ausmasse an.

Solche Ereignisse waren nichts Neues in der Geschichte der Unternehmung. Die in Branchen organisierten Marktverantwortlichen lieferten marktorientierte Innovations-Opportunitäten, die zu Adhoc-Entscheidungen in der Ressourcenorientierung führten.

Das KMU-geprägte Führungsverständnis des Patrons und Eigentümers zwang die Direktion – und mit ihr die gesamte Unternehmensorganisation – zu immer neuen strategischen Richtungsänderungen. Zuletzt war die Unternehmensentwicklung dem marktorientierten Zufall und der Intuition des Mittelmanagements
überlassen.

Technologiemanagement als Ausgangsbasis

Als erster Schritt zur Systematisierung der Ressourcenzuteilung wurden das Technologieportfolio der Unternehmung aufgelistet und die daraus entwickelten
Produkte zugeordnet.

Danach wurde pro Technologie und Branche die Phase des Lebenszyklus spezifiziert. Je nach Branche befanden sich die jeweiligen Technologien in verschiedenen Phasen ihres Lebenszyklus: In der Lebensmittelbranche verschwand die Rohrheizkörper-Technologie aus den Herdplattender Küchen und wurde durch die Folien in Keramikhochfeldern abgelöst, während sich Rohrheizkörper in der Fahrzeugtechnik und der Bahn auf der Höhe ihres Lebenszyklus befanden. Kaffeemaschinen wurden durch Heizpatronen anstelle klassischer Boiler energieeffizienter und günstiger in der Herstellung.

Heizfolien in Lenkrädern wurden durch ihre kapazitive Funktion zu sicherheitsrelevanten Sensoren in selbstfahrenden Automobilen, indem sie detektieren, ob der Fahrer / die Fahrerin mit beiden Händen das Lenkrad festhält.

So gelangte die Unternehmung in die Welt der sicherheitskritischen Sensorik. Aus passiven Heizelementen wurden aktive Sensor-Applikationen entwickelt, die wiederum in der Medizinbranche mannigfache Anwendung fanden. Damit erschloss sich für die Firma nicht nur eine völlig neue Technologiewelt, sondern zusätzlich eine sehr margenträchtige, zukunftsgerichtete Branche.

Einbindung in den Strategieprozess

Dieser Schritt schuf die Voraussetzung für die Planung in drei Stufen:

  1. Die Marktverantwortlichen lieferten im Rahmen des fortlaufenden Budgetprozesses eine fundierte Einschätzung der zukünftigen Produktumsätze und -erträge in ihrer Branche aufgrund der abgeschlossenen und anstehenden Verträge.
  2. Sie gewichteten dann ihre Einschätzungen in Zusammenhang mit der Lebenszyklusphase, in der sich die Technologie pro Branche befand und wo sie Potenzial für weitere Anwendungen sahen.
  3. Schliesslich ermittelten die Technologieverantwortlichen den Bedarf an Fachkräften pro Projekt und Wachstumsinitiative, um die limitierten Ressourcen zielgenau zu allokieren.

Am Schluss des Verfahrens lag pro Branche eine Übersicht aller Initiativen vor, aufgeteilt nach Technologien und mit Angaben zum jeweiligen Potenzial und Bedarf an Ressourcen zur Umsetzung.

Der Ressourceneinsatz

Die Herausforderung der Ressourcenzuteilung ist nicht nur auf die Quantität der Ressourcen beschränkt, denn die unterschiedlichen Innovations- und
Wachstumsvorhaben erfordern spezifische Kompetenzen, wie im Folgenden dargelegt wird.

Einführung

Befindet sich eine Technologie am Anfang ihres Lebenszyklus in einer Branche und wird hier ein interessantes Marktpotenzial eingeschätzt, so werden schwerpunktmässig R&D-Ressourcen und Entwicklungsingenieure auf das entsprechende Projekt angesetzt. Weiterep Spezialisten werden nach Bedarf punktuell beigezogen.

Wachstum

Umsatzstarke Produktinnovationen in der Wachstumsphase, welche sogar Potenzial für mehrere Branchen zeigen, erhalten bevorzugt Ressourcen aus der Verfahrensinnovation. Diese sorgen dafür, dass das volle Potenzial der Technologie in die Produktanwendungen transferiert wird.

Besonderer Fokus wird auf Skaleneffekte, modernste Fertigungsmethoden und Automatisierung gelegt. Auch kostengünstige Produktionsstandorte und deren geografische Aufteilung je nach Absatzmarkt müssen erwogen werden, um die Umsätze weltweit sicherzustellen.

Reife

Produkte aus kompetitiven Branchen umfeldern, die bereits ihre Reifephase erreicht haben, werden durch intensive Kaizen-Programme von spezifisch dazu ausgebildeten Fachkräften ertragsoptimiert. Im geschilderten Fall wurden die weltweit verbliebenen Produktionskapazitäten an einem Standort konzentriert und die Logistikkette entsprechend optimiert, um ein gesättigtes und etabliertes Kundensegment zu bedienen. Selbstverständlich mussten zu diesem Zweck zahlreiche weitere Spezialisten beigezogen werden.

Verwertung

Wenn in einer Branche die Technologie am Ende des Lebenszyklus angelangt ist und die Technologieexperten keine neue Anwendung anvisieren können, werden Optionen ausgelotet und ausgewertet, wie ein Zusammenschluss mit einem anderen Hersteller zur Effizienzsteigerung, eine andere externe Verwertung oder schlicht eine Veräusserung der Technologie gewinnbringend abzuschliessen wäre.

Auch in dieser Phase braucht es Spezialisten, darunter solche im Bereich der Fusionen, Akquisitionen sowie Desinvestitionen.

Wenn also die Leitung einer Unternehmung mehr Geschäftschancen sieht, als sie innerhalb des wettbewerbsrelevanten Zeitfensters mit den vorhandenen Ressourcen packen kann, muss sie die Ressourcen nach Prioritäten zuteilen und sie konzentriert dort einsetzen, wo die besten Erfolgsergebnisse zu erzielen sind.

Nachhaltigen Erfolg sichern

Aus der Zusammenarbeit zwischen Branchen- und Technologieverantwortlichen entsteht unter Verwendung dieses Werkzeug im Rahmen des Budgetprozesses ein umfassendes grafisches Abbild der strategischen Orientierung des Unternehmens.

Die oben beschriebenen fünf unternehmerisch relevanten Dimensionen (Technologie, Anwendungsbereiche, Lebensphase, Potenzial und Ressourcenbedarf) lassen sich in einer übersichtlichen Grafik darstellen, aus der wiederum strategische Zusammenhänge abzulesen sind.

Diese Gesamtsicht beschreibt – je nach Phase im Lebenszyklus (Einführung, Wachstum, Reife und Verwertung) – das derzeitige wie auch zukünftige Potenzial der einzelnen Technologien pro Anwendungsbereich im Portfolio eines Unternehmens.

Damit zeigt sich auch deren nachhaltig strategische Relevanz sowie dessen Beitrag zum gesamten Unternehmenserfolg. Im vorliegenden Beispiel ist eine Konzentration der Unternehmenserträge auf Patronen, Folien und Rohrkörper in der Reifephase erkennbar. Bänder und Spulen sind Randerscheinungen.

Aus dem Technologie- und Branchenportfolio erschliesst sich ebenfalls der gesamte Ressourcenbedarf. Es zeigt, ob der gezielte Einsatz der vorhandenen Ressourcen ausreicht, um dieses Powerplay im Innovationsmanagement zu meistern, oder etwaige Lücken durch Re-Priorisierung der Innovationsmöglichkeiten oder eine Nachrekrutierung der fehlenden Fachkräfte geschlossen werden können. Der Technologiewechsel von Rohrheizkörpern zu Heizpatronen in der Kaffeemaschinen-Anwendung in diesem Beispiel erfolgte verzögert, weil die erforderlichen Ressourcen (im Vergleich zur Konkurrenz) eher spät rekrutiert und allokiert wurden.

Eine weitere Erkenntnis aus der Portfolioübersicht ist, dass die Entwicklungsbestrebungen sich auf eine einzige Technologie konzentrieren, was in einem einseitigen Portfolio münden könnte.

Strategische Implikationen

Somit landen wir bei den strategischen Implikationen der Positionierung des Unternehmens im Technologie- und Branchenkontext. Das Werkzeug lässt bildlich erkennen, wo Klumpenrisiken und Innovationslücken liegen. Technologische Zusammenhänge zwischen einzelnen Branchen und zukünftige Entwicklungen ergeben sich aus der Anordnung der branchenspezifischen Umsatzträger, verteilt über die Technologien (vertikal) und deren Lebensphase (horizontal).

Das beschriebene Unternehmen tut gut daran, sich neben den drei zentralen Technologien (Patronen, Folien, Rohrheizkörper) nach neuen Technologien umzusehen (Technologie-Scouting) und kaum mehr Anwendung findende Technologien zu devestieren.

Eine konsequente Anwendung dieses Werkzeugs dient somit der strategischen Geschäftsentwicklung des Unternehmens, weil es die Stärken und Schwächen in der Branchen- und Technologieverteilung beschreibt und so Handlungsräume und Warnpunkte frühzeitig sichtbar macht.

(Erstpublikation in der Zeitschrift «KMU-Magazin» Nr. 4/5, April/Mai 2021)

Dr. Bernhard Frei
Dozent, Berater, Prose AG Bernhard Frei, Dr. oec., M.Sc. Engineering, ist Dozent für Digitalisierung, Service Transformation und Technologiemanagement
an diversen Hochschulen der Schweiz und Teamleiter Consulting DACH bei der Prose AG in Bern, einem europäischen Engineering-Consulting-Unternehmen für Mobilität.