Die digitale Reise von KMU – den Kunden als Ausgangs- und Endpunkt betrachten
Die Digitalisierung ist inzwischen ein strategisches Top-Thema für KMU-Verantwortliche. Es stellt sich aber die Frage, um welche Handlungsfelder es eigentlich geht und wie diese operativ zu analysieren und dann zu bearbeiten sind.
Das Verhalten und die Bedürfnisse von Kunden ändern sich über die Zeit – es gilt, sie immer wieder zu erforschen.
(Foto: Ivan Samkov - pexels)
In einer kürzlichen Umfrage unter einigen Schweizer Industriefirmen gaben 55 Prozent aller Befragten an, dass für sie die Digitalisierung zu den drei wichtigsten strategischen Themen zählt. (1) Zudem sehen KMU die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Unternehmensstrategie in den nächsten zwei bis drei Jahren aufgrund der Digitalisierung anpassen müssen, bei über 50 Prozent und bei Grossunternehmen sind es sogar weit mehr als 60 Prozent. (2)
Die meisten Firmen haben digitale Projekte bereits in einem der nachfolgenden Handlungsfelder realisiert:
- Die Optimierung und Automatisierung der firmeneigenen Prozesse: Zentrale Themen sind hier die Steigerung der eigenen Effizienz, eine Reduktion von Defekten oder eine Reduktion der Durchlaufzeiten. Typische digitale Projekte in diesem Zusammenhang sind die Modernisierung von ERP-Systemen, die Einführung von CRM-Applikationen zur Steigerung der Vertriebseffizienz oder erste Projekte im Kontext Industrie 4.0 / Smart Factory.
- Aufbau einer digitalen Schnittstelle zum Kunden mit dem Ziel, die Kundenbindung zu steigern oder neue Verkaufskanäle zu etablieren: Typische Projekte sind die Einführung eines Webshops oder einer Kunden- und Serviceplattform.
- Entwicklung neuer digitaler Produkte, Services und Geschäftsmodelle mit dem Ziel, neue Umsatzquellen zu erschliessen: Typische digitale Services sind beispielsweise die Zustandsüberwachung von Anlagenoder die sogenannten «Pay-per-use»-Modelle.
Technologischer Fokus
Der Ansatz von Schweizer KMU zur Digitalisierung, wenn sie keine «Digital Natives» sind, ist oft technologiegetrieben und produktbezogen. Wir argumentieren, dass dies direkt mit der DNA zahlreicher Schweizer Unternehmungen zu tun hat. Schweizer Qualität hat sprichwörtlichen Charakter. «Made in Switzerland» ist Synonym mit langlebigen, technisch hochstehenden und fachmännisch verarbeiteten Produkten – Eigenschaften, die über Jahrzehnte zu einer soliden Tradition gefestigt wurden. Dasselbe gilt ebenfalls für Dienstleistungen unterschiedlicher Art.
Technische Kompetenz und fachkundiges Können sind auch zentrale Bestandteile der schweizerischen Berufsbildung, ein bewährtes Modell, das zurecht internationale Anerkennung geniesst. Fachkräfte mit diesem technischen Fokus begegnet man auch auf Führungsetagen, insbesondere bei KMU. Sie tragen dieses Gedankengut weiter, dem die Schweizer Wirtschaft viel Gutes, nicht zuletzt zahlreiche Innovationen, verdankt.
Es darf dementsprechend nicht überraschen, dass auch Digitalisierung in Schweizer KMU als technisches Phänomen angegangen wird. Schliesslich ist Technologie in der Digitalisierung omnipräsent und stellt hohe Anforderungen an Wissen und Können, um sie sich zunutze zu machen. Wenn diese Sichtweise unternehmensweite Gültigkeit geniesst, dann kann sie einzelne Fachbereiche dazu bewegen, durch Digitalisierung eine Lösung auf fachspezifischen Herausforderungen zu suchen: in der Beschaffung, der Innenlogistik, der Entwicklung oder der Produktion.
Eng gekoppelt mit dem technologischen Fokus ist die unter Unternehmen der herstellenden Industrie verbreitete Haltung, ihr Produkt oder ihren Produktionsprozess ins Zentrum ihrer Überlegungen zu stellen. Dank des technologischen Fortschritts bieten sich Entwicklungsmöglichkeiten für die aktuellen Produkte und Prozesse an. Solche lassen sich aus einer Investitionslogik schneller begreifen und einfacher rechtfertigen als neue Angebote für aufkommende Kundenbedürfnisse. Versucht man, einen Business Case für letztere zu berechnen, so ist man mit schwer einschätzbaren Aussichten aufgrund fehlener Erfahrung und mangelnder Vergleichswerte konfrontiert. So bleibt man lieber bei den bewährten Angeboten und verbessert deren Leistung. Ob aber eine technische Verbesserung als Mehrwert oder als störende Veränderung wahrgenommen wird, bestimmt allein der Nutzer, nicht der Anbieter.
Ursache für ein Scheitern
Ein enger Fokus auf die eigenen Produkte und Prozesse ist umso folgenreicher, wenn es um länger dauernde Entwicklungen geht, denn in der Zeit bis zur Markteinführung können a) sich die Bedürfnisse der Kunden ändern, b) Konkurrenzunternehmen mit besseren beziehungsweise erheblich günstigeren Angeboten aufkommen oder c) neue Technologien die etablierten Marktverhältnisse erschüttern. Der innenorientierte Fokus verleitet die Unternehmung dazu, diese externen Veränderungen auszublenden. Dies bringt das Risiko mit sich, dass mühsam entwickelte Neuangebote am Markt erfolglos bleiben oder sogar das Kerngeschäft von Unternehmen durch digitale Substitute und Neueintritte erodiert.
Folgende drei Faktoren wirken sich verstärkend auf die Notwendigkeit der Orientierung an den aktuellen und potenziellen Kunden aus:
- VUCA-Welt: Die KMU sehen sich heute einer hohen Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität ausgesetzt. Finanzkrise, Frankenschock, Corona-Krise oder die aktuellen Engpässe in der Lieferkette sind nur einige Beispiele für unvorhersehbare und dynamische Ereignisse, mit denen sich KMU in den letzten Jahren konfrontiert sahen.
- Neue Markteintritte digitaler Unternehmen: Start-ups und Technologieunternehmen agieren sehr nah am Kunden, sammeln Daten zu deren Nutzerverhalten und richten ihr Geschäftsmodell agil auf diese aus. Sie werden durch eine grosse Menge an Risikokapital unterstützt, das beständig auf der Suche nach Opportunitäten ist, um in etablierte Märkte mit digitalen Lösungen einzudringen und einen Teil der Konsumentenrenten abzuschöpfen.
- Neue, durch die Digitalisierung ermöglichte Geschäftsmodelle wie digitale Marktplätze für Industriegüter: Diese transformieren den traditionellen Absatzkanal und bringen das Risiko, dass KMU von ihren Kunden abgeschnitten werden.
Die fehlende Ausrichtung auf den Kunden befällt auch auf Digitalisierung abgestützte Vorhaben. Wenn überhaupt, sind sie sogar stärker davon betroffen, weil der Unternehmung dazu die Erfahrungswerte fehlen. Die technologiegetriebene Entwicklung einer digitalen App ohne Einbezug des Kunden bringt das entmutigende Ergebnis niedriger Nutzerzahlen.
Anmerkungen
(1) Industrie 2025: Umfrage Digitalstrategie (2021)
(2) Peter, Mark (Hrsg.), 2021: Strategieentwicklung im digitalen Zeitalter – Planung & Umsetzung der Digitalen Transformation
Die drei Wirkungsfelder für eine kundenzentrierte Digitalisierung
Der Polarstern der digitalen Reise
Erfolgreiche digitale Unternehmungen gehen einen anderen Weg, indem sie den Kunden konsequent ins Zentrum stellen. Kundenzentrierung bezeichnet dabei eine Denkhaltung, bei der die gesamte Unternehmung konsequent auf den Kunden ausgerichtet wird. Für Führungskräfte heisst das, dass drei Wirkungsfelder ihrer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen (vergleiche Grafik der drei Wirkungsfelder):
A) Der Fokus des Geschäftsmodells: Bei jedem Bestandteil (beispielsweise Wertversprechen oder Vertriebskanal) muss die Frage gestellt werden, auf welche Art dieser für den Kunden einen Nutzen stiftet, seine Pains lindert, seine Gains erhöht und seine Customer Journey reibungslos erfolgen lässt.
B) Organisationale Voraussetzungen: Hier kann eine härtere und eine softere Seite unterschieden werden. Zur ersteren gehört die Organisationsstruktur. Diese soll die Signale der Umwelt, Chancen, Risiken und Innovationsmöglichkeiten aufnehmen, kanalisieren und auswerten. Die Gestaltung der Prozesse muss vor allem der zentralen Funktion von Vertrieb und Kundendienst als Bindeglied zwischen Unternehmung und den wichtigen internen Funktionen wie Produktion oder Forschung und Entwicklung Rechnung tragen. Unter den Soft-Faktoren gebührt der Kultur, also den gelebten Normen und Werten, die kritische Rolle. Kundenzentrierung muss durch Unternehmensführung und Kader vorgelebt werden. Kundenbezogene Symbole (beispielsweise Fotos von Kunden, Kundenvisiten) und Sprache («customer first», «der Kunde steht im Mittelpunkt») helfen dabei, den Fokus auf den Kunden zu richten.
C) Methoden und Verfahren: Design Thinking in Bezug auf Entwicklung und Herstellung sowie Traction in Bezug auf die Vermarktung sind Innovationsmethoden, die Unternehmungen darin unterstützen, ihre Prozesse auf die Kunden zu fokussieren. Die Grundlage der kundenzentrierten Entwicklungen bilden Daten und Informationen. CRM-Systeme, Marketing-, Voice-of-the-Customer-Datenbanken, Website und Sales Analytics sowie regelmässige Kundenbefragungen und Interviews schaffen eine 360-Grad-Sicht auf den Kunden und seine Bedürfnisse. Die Sammlung, Auswertung und Nutzung dieser Daten und Informationen leisten unschätzbare Dienste für eine fundierte, kundenzentrierte Entwicklung neuer Angebote sowie die Optimierung der eigenen Prozesse.
Einige Beispiele
Folgende Beispiele aus verschiedenen Unternehmensbereichen zeigen auf, wie Kundenzentrierung einen Beitrag für eine erfolgreiche Digitalisierung leisten kann:
- Forschung und Entwicklung (F & E): Viele Produktionsfirmen entwickeln ihre Produkte nach einem klassischen F & E-getriebenen Wasserfallmodell. Digitale Lösungen hingegen erfordern eine kundenzentrierte Produktentwicklung unter engem Einbezug des Kunden und mit beständigen Lernzyklen. Entwickelt ein Maschinenbauer beispielsweise eine digitale Lösung zur Performance-Verbesserung seiner Anlage, so sollte diese unter Einbezug des Operators der Maschine entwickelt und getestet werden. Nur so ist sichergestellt, dass die neuen Funktionalitäten auch einen effektiven Mehrwert aus Nutzersicht generieren und faktisch genutzt werden.
- Verkauf: KMU verkaufen häufig über Zwischen- oder Grosshändler ihre Produkte an ihre Kunden (B2B2C). Dies führt allerdings dazu, dass sie keinen direkten Zugang zu den Endkunden haben und deren Bedürfnisse nur schlecht verstehen. Über digitale Verkaufskanäle oder auch Kundenplattformen bietet sich für solche Unternehmen die Möglichkeit, direkt mit ihren Kunden in Interaktion zu treten. Die auf dieser Basis generierten Daten können für eine verbesserte Kundenansprache aber auch die eigene Produktweiterentwicklung eingesetzt werden.
- Service: Servicetechniker sind häufig vor Ort beim Kunden und sammeln hier interessante Eindrücke, die allerdings häufig nicht ins Unternehmen zurückfliessen. Im Sinn einer kundenzentrierten Organisation sollten diese den anderen Unternehmensbereichen systematisch zur Verfügung gestellt werden. Dies erlaubt beispielsweise der Produktion, Qualitätsprobleme gezielt zu identifizieren, oder der Entwicklung, ihre Produkte laufend zu verbessern.
- Produktion: Industrie 4.0 und intelligente Fabriken setzen die kundenindividuelle Anpassung der Massenfertigung ins Zentrum ihrer Strategien. Voraussetzung hierfür ist allerdings ein fundiertes Verständnis über die Bedürfnisse der Kunden, um einen optimalen Anpassungsgrad zu erreichen. Erst eine Kundenzentrierung der gesamten Organisation hilft der Produktion, die notwendigen Daten und Informationen für kundenindividuelle Produkte bereitzustellen.
Abschlussbemerkung
Schweizer KMU sind gefordert, eine kulturelle Wende vorzunehmen, um die Digitalisierung erfolgreich zu meistern. Es braucht bewusste Schritte, da ihre «natürliche» Tendenz vorwiegend technikorientiert ist. Der Ausgangspunkt bildet ein Verständnis der Bedürfnisse und des Verhaltens der eigenen Kunden. Dies bedingt eine tiefgreifende Transformation auf der Ebene des Geschäftsmodells, der Organisation sowie der eingesetzten Methoden. Nur so kann die Digitalisierung einen konkreten Mehrwert schaffen und für Schweizer KMU zu einem Wettbewerbsvorteil werden.
(Erstveröffentlichung: kmuRundschau 4/2021)