Dr. Irene Pill 03.03.2022

Unconscious Bias – Neue Brillen braucht das Land

Manchmal ist es äusserst hilfreich, wenn man rasch und intuitiv handelt und Menschen, ohne lange nachzudenken, einschätzt. In anderen Situationen führt unbewusste Voreingenommenheit (Unconscious Bias) zur Verzerrung unserer Wahrnehmung. Dies hindert uns daran, Potenziale von Menschen zu sehen, und es kommt womöglich zu Ausschluss und Diskriminierung. Insbesondere Personalentscheidungen, Teamzusammenarbeit und Organisationsentwicklung können darunter leiden. Neue Brillen sind also gefragt!

Eigentlich wollen wir ja rein rationale Entscheide treffen, aber sind wir uns tatsächlich so sicher, dass uns das stets gelingt? Wird unser Alltagstun nicht doch durch automatische Vorannahmen und Befangenheiten, ohne für uns erkennbar zu sein, erheblich beeinflusst? Kommen wir ab und an zu vorschnellen Beurteilungen von Situationen und Personen?

«Die Wirklichkeit ist immer ein menschliches Konstrukt.»

Seien wir ehrlich: Unsere Wahrnehmung der Welt und unserer Mitmenschen, unser Denken, Erinnern und Urteilen sind längst nicht so objektiv, wie wir uns dies wünschen würden. Unsere Handlungsprozesse sind das Resultat eines Zusammenspiels von Erfahrungen, Bauchgefühl, Interpretationen und Bewertungen, die wertvoll sind, jedoch auch von Stereotypen und Vorurteilen gespeist sind. Voreingenommenheit und kognitive Verzerrungen (Unconscious Bias) drohen.

Blinde Flecke und Schubladendenken

Die Auswirkungen auf die Gesellschaft im Allgemeinen ebenso wie auf den Erfolg von Unternehmen sind beachtlich. Gerade im Personalmanagement, vom Recruiting über Beurteilungen und Salärverhandlungen bis hin zu Beförderungen, um nur einige wenige Beispiele anzuführen, ist es unerlässlich, sich dessen bewusst zu sein. Dabei tun sich zentrale Fragen auf.

Wem schenken wir Aufmerksamkeit? Haben wir feste Rollenerwartungen an Frauen und Männer? Wie wichtig sind Äusserlichkeiten wie Hautfarbe, Kleidung etc.? Wie bedeutsam sind gefühlte Nähe und Ähnlichkeit? Nehmen wir nur diejenigen Informationen über eine Person wahr, die unsere Erwartungen bestätigen und ignorieren dabei vieles, was diesem Bild nicht entspricht? Präferieren wir eher Menschen aus unserem Kulturkreis, weil damit unsere gewohnten Erfahrungen verknüpft sind, und betrachten personelle Vielfalt eher als anstrengend? Wie reagieren wir bei Bewerbungen, wenn wir auf einen fremdländischen Namen stossen oder ein Foto eine Frau mit einem Kopftuch zeigt? Ist uns die Frage, woher jemand kommt, wichtiger als die Frage, wohin jemand möchte?

Wir alle haben unsere blinden Flecke, und es wird uns sicher nur selten gelingen, vollkommen rational und vorurteilsfrei zu agieren. Dabei haben wir es mit einer Ökonomisierungsstrategie unseres äusserst effizienten Gehirns zu tun, das wir uns als «mentalen Geizkragen» vorstellen können. Um Ressourcen zu schonen und die alltägliche Informationsflut handhaben, greift das menschliche Gehirn überwiegend auf gewohnte, erlernte Muster, individuelle Erfahrungen und Assoziationen zurück. Quasi auf Autopilot vergleicht es bereits Erlerntes und Gespeichertes und nimmt gedankliche Abkürzungen, es verallgemeinert und ordnet in Raster ein. Da Aufmerksamkeit eine beschränkte Ressource ist, dient schematisiertes «Schubladisieren» zur Vereinfachung, Orientierung und Verarbeitung. Dadurch wird die Menge der einströmenden Reize selektiert, und komplizierte Zusammenhänge werden verstehbarer gemacht. Diese Komplexitätsreduktion erleichtert den Alltag enorm, was bei Stress, Druck, Multitasking und Zeitknappheit besonders willkommen ist.

Ebenso entscheidende Faktoren sind Emotionen (bin ich optimistisch, entnervt?), die Tageszeit (ist es Nachmittag oder kurz vor Feierabend?) und die Tagesform (bin ich müde, hungrig?). Und nicht zuletzt beeinflussen uns auch die Medien, historisch gewachsene gesellschaftliche Einschätzungen und Machtverhältnisse signifikant, ohne dass wir uns dessen immer gewahr sind.

Unconscious Bias effektiv begegnen

Verantwortliches Handeln in Beruf und Gesellschaft verlangt also permanent, automatische Vorannahmen klarsichtig in den Blick zu nehmen:

  • Was weiss ich über die Personen wirklich, mit denen ich zu tun habe?
  • Wo schliesse ich von Bekanntem auf Unbekanntes? Ist meine Wahrnehmung selektiv und sehe ich nur das, was mein eigenes vorgefasstes Urteil bestätigt?
  • Neige ich zu Generalisierungen oder erkenne ich den Einzelnen in seiner individuellen Einzigartigkeit und lasse mich überraschen?
  • Wo laufe ich eventuell sogar Gefahr, andere zu diskriminieren oder zu privilegieren?

Den vielfaltsbewussten Personalverantwortlichen kommt somit eine tragende Rolle zu. Selbstverständlich lassen sich verborgene Muster nicht so einfach erkennen, hinterfragen und ablegen. Indem wir uns aber die Mechanismen vor Augen halten, unsere Wahrnehmungen selbstkritisch hinterfragen und sensibel und offen sind für einen kontinuierlichen Reflexionsprozess, können irrationale Entscheidungen umgangen und neue Handlungsoptionen gesehen werden. So vermeiden wir, dass im Gefolge unserer unterschwelligen Voreingenommenheit Stereotype oder gar Vorurteile unsere Einstellungen gegenüber Andersartigkeit dominieren.

Vielleicht möchten Sie für sich einmal ein Training ausprobieren, das ich ab und an selbst anwende, um mir wieder einmal klarzumachen, wie Unconscious Bias mein eigenes Bild von anderen Menschen und mein Handeln prägt. Wenn ich in einem gut gefüllten öffentlichen Verkehrsmittel oder in einer rege besuchten Kantine Platz nehmen möchte, schaue ich mir gleichsam von oben zu, welche Blitzannahmen ich treffe und welche Kategorisierungen ich vornehme:

  • Wie scanne ich? Beobachte ich zuerst ruhig und konzentriert oder interpretiere und bewerte ich auf der Stelle?
  • Nach welchen Kriterien suche ich mir einen Platz aus?
  • Wen beachte, wen ignoriere ich? Gehe ich gezielt auf Personen zu, die ich als fremd empfinde? Bin ich offen für Neues, Andersartiges oder mache ich mir ein holzschnittartiges Bild von meinem Gegenüber?
  • Habe ich die passenden Brillen auf oder wären anders getönte Clip-Ons eher hilfreich?

Für einen diskriminierungssensiblen und diversitätsbewussten Arbeitsplatz sind Anti-Bias- und Managing-Diversity-Trainings zentrale Hilfsmittel. Sie unterstützen Unternehmen bei einem strukturellen und kulturellen Wandel und zeigen Strategien gegen blinde Flecke, Ausgrenzung und Benachteiligung auf. Wohl versehen mit neuen Brillen, wird die Integration der Vielfalt unterschiedlichster Mitarbeitender und verschiedenartiger Kulturen – und damit neues Sehen – möglich.

 

(Erstveröffentlichung: personalSCHWEIZ 2/2022)

Die Autorin