DANIELA MÜHLENBERG-SCHMITZ und MARKUS KIRCHHOFER 28.07.2022

Hürden überwinden – Barrieren abbauen

Pauschalfinanzierung und standardisierte Berechnungen für Betreuungsleistungen können zu Barrieren für beeinträchtigte Personen werden. Daher müssen Betreuungseinrichtungen Möglichkeiten finden, die diese Hürden überwinden. Ein neues Finanzierungsmodell im Kanton Zürich macht Hoffnung, auch für die Stiftung WABE, die mit einem innovativen Weg vorangeht, der gleichzeitig die Selbstbestimmung der Betroffenen fördert.

Wie die bestehenden Finanzierungssysteme von Behinderteneinrichtungen in der Schweiz zu Fehlanreizen führen können, untersucht das FFHS-Institut für Management und Innovation im ERFIBEL-Forschungsprojekt. Nicht nur die Einrichtungen, sondern auch die beeinträchtigten Menschen selbst sind davon betroffen.

Hintergrund und aktuelles Finanzierungssystem

Mit dem Nationalen Finanzausgleich (NFA) ging im Jahr 2008 die Finanzhoheit über die Behinderteneinrichtungen vom Bund zu den Kantonen. Viele Kantone haben dies zum Anlass genommen und sind vom Finanzierungsmodell der Defizitdeckung zur Pauschalfinanzierung übergegangen. Hierbei werden den Einrichtungen vom Kanton nur noch Pauschalen abgegolten – in der Regel abgestuft nach den erbrachten Betreuungsleistungen – und es wird nicht mehr automatisch ein Verlust ausgeglichen. Die Kantone fordern gleichzeitig mehr Effizienz und mehr unternehmerisches Denken. Mittels Kennzahlenvergleichen und Normkosten geraten die Institutionen zusätzlich unter Druck.

Über das Forschungsprojekt

«Erfassung und Finanzierung von Betreuungsleistungen in Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderung in der Schweiz» (ERFIBEL)

  • Projektpartner: FFHS, SUPSI, FHNW
  • Interdisziplinäre Ausrichtung: Betriebsökonomie, Soziale Arbeit, Heilpädagogik
  • Projektfinanzierung: u. a. diverse Förderstiftungen, Vereine, kantonale Lotteriefonds
  • Methodik: schriftliche Befragung bei 26 Kantonen, schriftliche Befragung bei 229 Institutionen (Rücklauf: 39.1 %), vertiefende Fallstudien in 9 Kantonen und 25 Institutionen
  • Gesamtprojektleitung: Daniela Mühlenberg-Schmitz (daniela.muehlenberg@ffhs.ch)

Betriebswirtschaftliche Ebene versus Betreuungsebene

Die schriftliche Befragung bei den Behinderteneinrichtungen zeigt, dass die Ziele auf der betriebswirtschaftlichen Ebene, d. h. mehr Effizienz und mehr betriebswirtschaftliches Denken und Handeln, grundsätzlich erreicht werden (Abbildung 1).

Gleichzeitig verdeutlichen die Antworten aber auch, dass sich das neue Finanzierungssystem zusätzlich auf die Betreuungsebene und damit bis zu den beeinträchtigten Menschen auswirkt (Abbildung 1). Konkret kann das beispielsweise bedeuten: Es werden nur noch solche Betreuungsleistungen erbracht, die vom Kanton finanziert sind, oder die Klientenstruktur in den Einrichtungen wird betriebswirtschaftlich optimiert und die Aufnahme einer Person wird danach abgewogen, ob sich die Institution dies finanziell leisten kann. Für beeinträchtigte Menschen mit einem hohen oder unklaren Betreuungsbedarf besteht dann das Risiko, nur erschwert einen Platz zu finden.

Abbildung 1: Einschätzungen der Institutionen zum Finanzierungs- und Erfassungssystem (Auszug) – Mittelwerte zu den Antworten der Institutionen, die dem vorherrschenden IBB-System unterstehen; n=113, 1=stimme nicht zu und 6=stimme voll und ganz zu.

Individualisierung versus Standardisierung

Das grösste Spannungsfeld besteht jedoch darin, dass auf der einen Seite die Institutionen die beeinträchtigten Menschen möglichst individuell betreuen wollen, sie aber auf der anderen Seite den Betreuungsbedarf nur mit einem vorgegebenen, standardisierten Raster erfassen dürfen. Dieses Indikatorenraster wird jedoch von den Institutionen stark kritisiert, da eine Vielzahl an Betreuungsleistungen nicht abgebildet werden kann (z. B. schwankende Störungsbilder, Mehrfachbeeinträchtigungen, Leistungen zur Befähigung einer Person) und diese somit letztlich nicht finanziert sind.

Hürden trotzdem überwinden

Das ERFIBEL-Forschungsprojekt erfasst aber auch verschiedenste Best-Practice-Ansätze der Einrichtungen, wie diese den genannten Fehlanreizen entgegenstehen. Ausgehend von ihrem Selbstverständnis als soziale Organisation haben sie gute Methoden entwickelt, wie sie das agogische Betreuungskonzept und die standardisierte Bedarfserfassung mit Indikatorenraster überein bekommen, und wie sie die nicht-finanzierten Betreuungsleistungen auffangen (Finanzierung durch private Gelder, z. B. Eigenmittel, Spenden). Auf der anderen Seite stellen die Kantone den Institutionen ein sehr gutes Zeugnis aus; sie erachten die Umsetzung des Finanzierungssystems insgesamt als qualitativ sehr gut.

Und schon zeichnet sich ein weiterer Paradigmenwechsel in der Finanzierung von Betreuungsleistungen ab: Im Kanton Zürich erhalten voraussichtlich ab 2023 nicht mehr die Einrichtungen die kantonalen Finanzmittel, sondern die Betroffenen selbst erhalten die Gelder und können sich die notwendigen Betreuungsleistungen selbständig einkaufen. Dies hat der Kantonsrat mit Verabschiedung des neuen Selbstbestimmungsgesetzes entschieden.

Aufbau eines ambulanten Betreuungsangebotes

Eine der wichtigsten Änderungen, welche das neue Selbstbestimmungsgesetz erreichen will, ist, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht mehr in einem Heim leben müssen, wenn sie vom Kanton finanzierte Betreuungsleistungen beanspruchen möchten.

Es soll ein ambulantes Betreuungsangebot entstehen, in welchem Betroffene in einer eigenen Wohnung leben und ihren Betreuungsbedarf in ihrem eigenen Zuhause beziehen können.

Innovative Betreuungsansätze in der Stiftung WABE

Die Geschäftsleitung und der Stiftungsrat der Stiftung WABE begrüssen die Entwicklungen zugunsten der betroffenen Menschen mit Beeinträchtigungen sehr. Die WABE will ebenfalls ambulante Betreuung anbieten – ein für die Stiftung neuer, innovativer Schritt. Dabei muss zuerst das Marktumfeld und die potenzielle Kundenstruktur erfasst werden. In diesem Projekt arbeitet die WABE mit Studierenden im Rahmen des FFHS-Studiengangs MSc Business Administration mit Vertiefungsrichtung Innovation Management zusammen.

Action Research als Methode zur Entwicklung neuer Ansätze

Bei der Entwicklung neuer Ansätze in Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis bietet sich die Methodik des Action Research an. Dabei handelt es sich um einen Prozess zur Sammlung von Beweisen für die Umsetzung von Veränderungen in der Praxis. Action Research ist situations- und kontextbezogen und beinhaltet iterative Reflexionspraktiken auf Basis der von den Teilnehmenden vorgenommenen Interpretationen. Das Wissen entsteht während und durch die Handlungen und kann auf der Lösung von Problemen basieren. Im Einklang mit der Forschungsmethode Action Research können Veränderungen und Verbesserungen iterativ eingeführt werden, was der vorliegenden Thematik sehr entgegenkommt.