«Inklusion passiert nicht automatisch»
Die aktuellen Rahmenbedingungen von Integrationsbetrieben für Menschen mit Behinderungen schränken die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) erheblich ein. Dies zeigen zwei Studien, welche die FFHS im Auftrag des Branchenverbands INSOS durchführte.
Integrationsbetriebe für Menschen mit Behinderungen sind ein wichtiger Teil des Schweizer Arbeitsmarktes. (Symbolbild: Adobe Stock)
Integrationsbetriebe für Menschen mit Behinderungen sind ein wichtiger Teil des Schweizer Arbeitsmarktes. Sie unterstützen über 60 000 Menschen mit einer IV-Rente oder IV-Massnahmen, indem sie ihnen unter anderem Arbeitsmöglichkeiten in eigenen Betrieben oder dem allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen oder Menschen ohne Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt eine Alternative zur Arbeitslosigkeit bieten.
«Der finanzielle Handlungsspielraum für die Integrationsbetriebe ist aber sehr begrenzt», sagt Prof. Dr. Daniela Mühlenberg-Schmitz vom Institut für Management und Innovation an der FFHS. Zusammen mit Silvia Kljajic führte sie im Auftrag von INSOS, dem Branchenverband der Dienstleister für Menschen mit Behinderung, die beiden Studien «Finanzierung von Integrationsbetrieben» und «Zusatzeinkommen in Integrationsbetrieben» durch.
Die Ergebnisse der Studien zeigen: Die kantonalen Finanzierungsmodelle und Vorgaben schränken das unternehmerische Handeln der Integrationsbetriebe massiv ein und erschweren so eine UN-BRK-konforme Weiterentwicklung der Arbeitsmöglichkeiten.
«Regulierte Branche und Föderalismus pur»
Für die Studie «Finanzierung von Integrationsbetrieben» untersuchten die Forscherinnen der FFHS, wie es um die Finanzierung im Behindertenbereich in der Schweiz bestellt ist. Weil Integrationsbetriebe die Arbeit von Menschen mit Behinderungen begleiten, werden sie vom Kanton für die Begleit- und Betreuungskosten finanziell abgegolten. «In der Schweiz herrscht Föderalismus pur. Jeder Kanton macht es etwas anders», fasst Mühlenberg-Schmitz zusammen.
In der Deutschschweiz etwa gibt es die sogenannte Pauschalfinanzierung. Die Einrichtungen bekommen im Vorfeld Geld vom Kanton zugesprochen, damit müssen sie haushalten, das Defizit müssen sie aber jeweils selbst übernehmen. In der Westschweiz übernehmen die Kantone das Defizit. «In den Kantonen mit Pauschalfinanzierung sind die Herausforderungen für die Betriebe sehr hoch. Die Behindertenbranche ist schweizweit stark reguliert – auch finanziell», erklärt Mühlenberg-Schmitz.
Hohe Erwartungen, wenig Spielraum
Die Kantone erwarten, dass die Integrationsbetriebe wirtschaftlich arbeiten. Aber, die Betriebe sind heute verpflichtet, erwirtschaftete Gewinne in einen sogenannten Schwankungsfonds zu speisen. Dieser ist so ausgestaltet, dass die Betriebe Überschüsse nur eingeschränkt nutzen können, Verluste aber selbst tragen müssen. Dazu Mühlenberg-Schmitz: «Das ist eine unausgewogene Risikoaufteilung und verhindert unterm Strich auch die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.»
Diese Konvention sieht gemäss der FFHS-Forscherin unter anderem vor, dass Menschen mit einer Behinderung inkludiert werden, dass sie bei ihren Arbeitsmöglichkeiten eine Auswahl haben und ihnen Vielfalt geboten wird. «Auch die Politik, die Gesellschaft und die Menschen mit Behinderungen erwarten die Umsetzung der Konvention. Aber Inklusion passiert nicht automatisch, mit den aktuellen Rahmenbedingungen ist das für die Integrationsbetriebe nicht finanzierbar», erklärt Mühlenberg-Schmitz.
Mehr Lohn, klare Kriterien und strikte Grenzen
Die beiden Forscherinnen haben auch die Löhne, sogenannte Zusatzeinkommen für Menschen mit Behinderungen in Integrationsbetrieben untersucht. Zusatzeinkommen deshalb, weil der Lohn in einem Integrationsbetrieb das existenzsichernde Basiseinkommen durch die Sozialversicherungen, beispielsweise die Leistungen der IV-Rente oder Ergänzungsleistungen ergänzt.
Den Lohnmodellen stellen die Forscherinnen gute Zeugnisse aus. Diese seien ausgeklügelt und anhand von objektiven und transparenten Kriterien würden die Löhne festgelegt. Auch hier: Nicht jede Einrichtung handhabt den Lohn gleich. Einige setzten auf Leistungs-, andere auf einen Einheits- oder Akkordlohn. «Die Betriebe würden gerne bessere Löhne zahlen, um so Anreize zu schaffen und Innovation und Vielfalt zu fördern, aber bei einer Lohnanpassung kommt es durch die Koordination mit den Sozialversicherungen oft zu Leistungskürzungen», so Silvia Kljajic.
Auf Basis der Studienergebnisse der FFHS fordern ARTISET (Föderation der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf) und INSOS nun in einem Positionspapier die Kantone auf, die Finanzierung der Integrationsbetriebe anzupassen. So könnte auch die geforderte UN-BRK-konforme Transformation der Betriebe vorangetrieben werden, um ein vielfältiges Angebot für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Nur so könnten die Betriebe auch in Zukunft ihre zentrale Rolle als Anbieter von begleitetem Arbeiten an der Schnittstelle zwischen ergänzendem und allgemeinem Arbeitsmarkt wahrnehmen.