Mathias Blatter 06.01.2025

«Emotionen sind unsere innere Kompassnadel»

Prof. Dr. Egon Werlen ist Fachpsychologe für Gesundheitspsychologie FSP und forscht am Institut für Fernstudien und eLearningforschung (IFeL) der FFHS zu Emotionen und ihrem Einfluss auf das Lernen. Im Interview erklärt er, warum auch negative Emotionen wichtig sind und wie sie unseren Alltag, unser Verhalten und unsere Lernprozesse prägen.

Egon, wann haben Sie sich zuletzt so richtig geärgert? 
Ehrlich gesagt schon länger nicht mehr. Das liegt vielleicht daran, dass ich mit den Jahren ruhiger geworden bin oder gelernt habe, Dinge schneller loszulassen. Aber genervt war ich vor Kurzem durchaus. Ich habe eine Tochter in der Vorpubertät, da kommt es zwangsläufig zu Spannungen und Diskussionen, die einen gelegentlich an den Rand der Geduld bringen. 

Wie reagieren Sie in solchen Momenten? 
Ich bin gereizt, kurz angebunden und reagiere abweisender. Meine Verärgerung sieht man mir wohl gut an, auch wenn ich versuche, sie zu kontrollieren. Es kann auch passieren, dass ich meiner Wut mit erhobener Stimme Ausdruck verleihe, obwohl das eher die Ausnahme ist. Viel häufiger ziehe ich mich zurück, verlasse die Situation bewusst, um mich an einem anderen Ort erstmal zu beruhigen. 

Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit Emotionen. Was fasziniert Sie daran? 
Emotionen sind in gewisser Weise das Zentrum unseres menschlichen Daseins. Ohne sie wären wir nicht überlebensfähig, und sie verleihen dem Leben seine Tiefe und Faszination. Sie sind wie eine innere Kompassnadel, die uns hilft, uns in unserer Umwelt zurechtzufinden und Entscheidungen zu treffen. Emotionen helfen uns, Situationen zu bewerten. Ausserdem sind Emotionen eng mit Motivation verbunden. Man könnte sagen, Emotionen sind der Motor, der uns antreibt. 

Dann braucht es Emotionen – auch die unangenehmen? 
Emotionen sind ein evolutionäres Ergebnis, das uns hilft, in einer komplexen und oft unberechenbaren Welt zurechtzukommen. Die unangenehmen Emotionen wie Angst, Ärger oder Traurigkeit haben wichtige Funktionen. Angst warnt uns und hilft, in kritischen Situationen vorsichtig zu agieren. Ärger zeigt, dass eine Grenze überschritten wurde. Traurigkeit ermöglicht es uns, Verluste zu verarbeiten und uns neu zu orientieren. Auch wenn negative Emotionen oft unangenehm sind, sind sie unverzichtbar für unser Überleben und unseren persönlichen Fortschritt.

Welche Rolle spielen Emotionen beim Lernen? 
Emotionen spielen eine grosse Rolle beim Lernen, allerdings nicht nur die kurzfristigen Emotionen, sondern vor allem die länger andauernden Stimmungen. Eine neutrale, leicht positive Grundstimmung ist ideal fürs Lernen. Starke Emotionen, ob positiv oder negativ, behindern das Lernen. Zu viel Freude kann dazu führen, dass man sich nicht mehr auf den Lernstoff konzentriert, während übermässige Trauer oder Ärger den Fokus auf das Wesentliche ebenfalls erschwert. 

Welche Emotionen beeinflussen den Lernprozess besonders stark? 
Es gibt bestimmte Emotionen, die eng mit dem Lernprozess verbunden sind, wie Freude, Neugier, Frustration, Verwirrung, Langeweile oder auch Interesse. Verwirrung, die oft als negativ empfunden wird, kann durchaus etwas Positives haben, weil sie dazu anregt, sich mit neuen Themen auseinanderzusetzen. Zu viel Verwirrung führt jedoch dazu, dass man das Interesse ganz verliert. Neugier ist eine der besten Emotionen für das Lernen, da sie die Motivation erhöht, sich weiter mit einem Thema zu beschäftigen. 

Wie messen Sie Emotionen in der Forschung? 
Es gibt unterschiedliche Methoden. Wir verwenden häufig Instrumente wie Fragebogen und Interviews, bei denen wir die Probanden direkt nach ihren Gefühlen befragen und ihre subjektiven Erfahrungen dokumentieren. Eine andere Methode ist die Messung physiologischer Reaktionen. Dazu gehört beispielsweise die Hautleitfähigkeit, die auf erhöhtes Schwitzen hinweist und damit Aufschluss über Erregung oder Stress gibt. Ein weiteres interessantes Instrument ist die Analyse der Mimik und Gestik, bei der wir mithilfe von Videoaufzeichnungen die emotionalen Reaktionen der Testpersonen analysieren. Komplexere Technologien erlauben es uns, die Bewegungen von Augen- oder Mausbewegungen zu verfolgen, um Aufschluss über das emotionale Erleben zu gewinnen. 

Was kann man tun, wenn Emotionen das Lernen blockieren, zum Beispiel bei Prüfungsangst? 
Prüfungsangst ist ein grosses Problem für viele Studierende, da sie die Fähigkeit, sich zu konzentrieren und Informationen abzurufen, erheblich beeinträchtigt. In solchen Fällen ist es wichtig, Techniken zu erlernen, die helfen, die Angst zu mindern. Atemübungen oder Achtsamkeitsübungen sind bewährte Methoden, um den Fokus wieder auf den Moment zu lenken. Auch Pausen und regelmässige Entspannungsphasen während des Lernens sind hilfreich, um das Gehirn wieder zu regenerieren. Wenn die Prüfungsangst extrem ist, kann es sinnvoll sein, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, um den Umgang mit dieser Situation zu erlernen. 

Wie unterscheiden sich Emotionen im Onlinestudium vom Präsenzunterricht? 
Im Präsenzunterricht werden Emotionen oft intensiver erlebt, weil man direkt mit anderen Menschen interagiert und deren Emotionen spüren kann. Der soziale Kontakt verstärkt positive Emotionen wie Freude oder Neugier, die das Lernen unterstützen. Im Onlinestudium sind Emotionen oft abgeschwächter, weil die direkte soziale Interaktion fehlt. Das kann dazu führen, dass negative Emotionen wie Einsamkeit oder Frustration stärker ins Gewicht fallen. Deshalb ist es wichtig, auch im Onlinestudium den Kontakt zu anderen Studierenden zu suchen und sich auszutauschen, um positive Emotionen zu fördern und das Lernen zu unterstützen. 

Soziale Medien sind heute ständiger Begleiter der jungen Menschen. Wie beeinflussen TikTok und Instagram unsere emotionale Landschaft? 
Durch den ständigen Konsum von kurzen, schnellen Inhalten verkürzt sich die Aufmerksamkeitsspanne, was Kinder und Jugendliche oft nervöser und hektischer macht. Der Algorithmus der Plattformen verstärkt zudem individuelle emotionale Tendenzen, da er immer ähnliche Inhalte vorschlägt. Das kann dazu führen, dass Menschen in einer Art emotionaler Blase leben, in der bestimmte Gefühle verstärkt werden. 

Wie hat sich der Umgang mit Emotionen in den letzten Jahrzehnten verändert? 
Der Umgang mit Emotionen hat sich im Laufe der Zeit stark gewandelt. Früher war es insbesondere für Männer eher üblich, ihre Gefühle zu unterdrücken, während Frauen dazu ermutigt wurden, ihre Emotionen auszudrücken. Heute gibt es mehr Freiheit und Akzeptanz für den offenen Ausdruck von Emotionen. Der Einfluss von Religion, Tradition und Kultur spielt dabei eine grosse Rolle.  

Technologien wie Virtual Reality oder KI sollen in Zukunft Emotionen nachbilden können. Denken Sie, es wird gelingen? 
Bereits heute gibt es Technologien, die Emotionen nachahmen, zum Beispiel in animierten Filmen oder bei Robotern. Diese Technologien stossen jedoch an ihre Grenzen, da menschliche Emotionen sehr komplex sind. Es wird zwar Fortschritte geben, doch ich glaube, dass es immer einen spürbaren Unterschied zwischen echten Menschen und künstlichen Systemen geben wird. Maschinen können immer menschenähnlicher werden, menschlich werden sie aber nie sein.