Irene Pill 08.02.2021

Der kleine Unterschied? Wie Schweizer und Deutsche zusammenarbeiten

«Wo ist denn hier das Problem?» Diese Frage bekomme ich häufig in meinen interkulturellen Trainings zu hören, wenn ich das Thema «Schweizer und Deutsche» anspreche. Genau dieser Satz aber ist das Problem! Da oft kein Bewusstsein für Kulturunterschiede besteht, tappen insbesondere neue Mitarbeitende in die Ähnlichkeitsfalle. Dabei würde es schon genügen, sich ein wenig näher mit dieser Thematik zu beschäftigen.

So nah und doch so fern

Sehr gut kann ich mich noch an meine ersten Monate in einem internationalen Schaffhauser Technologieunternehmen erinnern, für das ich fünf Jahre lang ausserordentlich gern gearbeitet habe. Den Start dort habe ich allerdings als herausfordernd empfunden: Ich spürte nicht selten, dass es speziell bei der Kommunikation hakte, konnte aber nicht genau benennen, woran es lag; dazu waren mir manche Arbeitsabläufe und Entscheidungsprozesse fremd und erschienen mir recht langwierig. Ich war ganz klassisch in die Ähnlichkeitsfalle getappt. Erst ein interkulturelles Training öffnete mir die Augen: Mir war in der Anfangsphase an meinem neuen Arbeitsplatz nicht ansatzweise bewusst gewesen, dass ich als Deutsche in der Schweiz einen anderen Kulturraum mit anderen Werten, anderer Sprache und Geschichte betreten hatte. Vor lauter vermeintlichen Gemeinsamkeiten hatte ich kein Senso rium und keine Begriffl ichkeiten für Kulturunterschiede.

Eines vorneweg: Uns ist allen klar, dass es «die Schweizer» genauso wenig wie «die Deutschen» gibt. Wenn im Folgenden von «Schweizern» die Rede sein wird, meine ich stets Deutschschweizer (selbstverständlich jeden Geschlechts). Und auch bei dieser eingrenzenden Kategorisierung liegt es auf der Hand, dass ein erheblicher Unterschied darin besteht, ob ich von Deutschschweizern und Deutschen in einer Grossstadt oder in einer ländlichen Region spreche. Zudem ist zur Analyse einer spezifischen Situation stets dreierlei zu berücksichtigen: das Individuum, die Umstände und die Kulturprägungen. Vorsicht ist also geboten, was Verallgemeinerung und Stereotypisierung anbelangt – und dennoch lassen sich grundlegende deutsche und Schweizer Kulturunterschiede festmachen.

Jeder trägt seinen Kulturrucksack

Im Laufe unseres Aufwachsens bekommen wir von verschiedenster Seite – Eltern, Geschwistern, Verwandten, Peergroups, Schule, Medien etc. – einen prall gefüllten «Kulturrucksack» mit auf unseren Lebensweg. Dieser Kulturtornister enthält unsere erlernten Werte, Überzeugungen, Normen und Regeln und damit ein Orientierungssystem, um kulturadäquat zusammenleben und -arbeiten zu können. Wohin auch immer wir uns bewegen: Entscheidend ist das Bewusstsein für unsere eigenen Prägungen und für die Tatsache, dass andere Menschen mit anderen Kulturrucksäcken unterwegs sind.

Wenn wir den Inhalt von Kulturrucksäcken vergleichen, springen einem sofort fünf Gepäckstücke und somit
zentrale, weltweit massgebliche Kulturtendenzen ins Auge:
1. Bedeutung von Zeit
2. Bedeutung von Regeln
3. Sach-/Beziehungsorientierung
4. Ich-/Wir-Orientierung
5. Direkte/indirekte Kommunikation

Beim Identifizieren dieser Unterschiede geht es nicht um ein «besser» oder «schlechter», sondern schlicht um die Anerkennung des Andersseins.

Deutsch-Schweizer Kulturrucksäcke

Wenn wir einen Blick speziell in deutsche und Schweizer Kulturrucksäcke werfen, dann fällt auf, dass Gemeinsamkeiten vor allem bei der eminenten Bedeutung von Zeit bestehen: «Meine Zeit ist kostbar» bzw. Zeit sollte nicht verschwendet werden» sind Sätze, die man sicherlich in beiden Ländern des Öfteren zu hören bekommt. Auch die deutliche Relevanz von Regeln, Struktur und Sicherheit, von Planung und Ordnung ist eine klare Parallele in beiden Kulturräumen.

Erhebliche Unterschiede fallen hingegen bei der Sach-/Beziehungsorientierung, der Ich-/Wir-Orientierung und dem Kommunikationsverhalten auf:

Sach-/Beziehungsorientierung

Deutsche gelten als sach orientiert, die im Geschäftsleben eher sachliche vor menschliche Aspekte stellen und wo das Was eine hohe Präferenz hat. «Wir wollen doch sachlich bleiben» oder «zur Sache kommen» sind häufige Denk- und Herangehensweisen, ganz gleich, ob es um Projektarbeit oder Vertragsverhandlungen geht. Schweizer freilich haben neben der Sachorientierung zudem die Beziehungsorientierung, das Wer, im Blick: Man ist sich dessen bewusst, dass die Sachebene bei Pflege der Beziehungsebene besser funktioniert, dass Erfolg auch auf persönlichen Kontakten beruht und Kontinuität wichtig ist. Man stimmt sich auf das Gegenüber ein und nimmt sich dafür eine gewisse Zeit: Der beachtliche Stellenwert des Znüni, von Apéros, kurzen Smalltalks und geschäftlichen Mittagessen belegt dies eindrucksvoll.

Ich-/Wir-Orientierung

Wie Deutschland gehört die Schweiz zum individualistischen Kulturkreis. Die Ich-Orientierung aber ist in der Eidgenossenschaft mit einem unverkennbaren Sinn für das Wir verbunden; die Zugehörigkeit z.B. zum Kanton, zu Sprachgruppen, zum Militär oder zu Studentenkreisen ist von Bedeutung. Schweizer agieren weniger hierarchisch als beispielsweise Deutsche oder Franzosen; Mitarbeitende werden oft als Gleichberechtigte gesehen und in Prozesse einbezogen. Stehen Projekte an, wird in der Schweiz bevorzugt eine gemeinsame Lösungsstrategie erarbeitet und nicht von oben herab diktiert; Verbesserungsvorschläge und Entscheidungen werden vorab mit allen Beteiligten detailliert diskutiert.

Direkte/indirekte Kommunikation

Der Wunsch nach klarer, offener Kommunikation ist bei Deutschen wie Schweizern deutlich. In Deutschland allerdings ist bei Problemen bzw. Konflikten nicht selten folgender Satz zu hören: «Nimm meine Kritik nicht persönlich.» In gut gemeinter Absicht sagt man unverblümt und geradeheraus die Wahrheit. So kann, auch wenn es keineswegs so gemeint ist, der deutsche Stil zuweilen als rechthaberisch,ungeduldig und unhöflich aufgefasst werden und demzufolge auf erheblichen Widerstand stossen. Wenn also Deutsche in einem Konfliktfall damit argumentieren, sie würden mit ihrer Beanstandung ja nur den strittigen Sachverhalt und nicht die Person meinen, sollten sie sich bewusst machen, dass in vielen Kulturen, so auch in der Schweiz, eine separate Kritik rein an der Sache nicht möglich ist und eine das Gesicht wahrende Vorgehensweise unabdingbar ist, sprich: kritisches Feedback lediglich unter vier Augen, niemals im Beisein Dritter, und obendrein diplomatisch und konstruktiv.

In der Eidgenossenschaft wird meist eine vorsichtige, indirektere Kommunikation gepfl egt; erwünscht ist hier ein nichtkonfrontativer Gesprächsstil, tunlichst vermieden wird ein dezidiertes Klären von Fronten und direktes Ansprechen von Unbehagen bzw. Problemen. Vielmehr sind die leisen Töne, höfliche Formulierungen und das zwischen den Zeilen Lesen angesagt. Selbstverständlich äussert man seine Meinung in der Schweiz ebenfalls,
diese gilt indessen nicht als absolut: Der grosse Stellenwert der eidgenössischen Konsensfähigkeit findet seinen Niederschlag auch in der Alltagssprache.

So fern und doch so nah!

Es liegt auf der Hand: Für eine optimale internationale Zusammenarbeit kommt dem HR-Management eine besondere Aufgabe zu, indem es rechtzeitig, am besten prophylaktisch, mittels Trainings, Coaching und Mentoren Hilfestellung leistet. Ganz gleich, ob man ein geografisch nahe gelegenes Land betritt oder Ozeane dazwischen liegen: Entscheidend ist, dass man die Existenz unterschiedlicher Kulturrucksäcke und damit andersartiger Denk-, Kommunikations- und Arbeitsweisen anerkennt. Derart vorbereitet, kann die Ähnlichkeitsfalle nicht mehr zuschnappen, und dem einander Näherkommen steht nichts mehr im Wege.

(Erstpublikation in der Zeitschrift «personalSCHWEIZ» Dezember 2019 - Januar 2020)

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