Technologie entwickelt sich nie wieder so langsam wie heute
Die Menschheit hat ein Problem. Heutzutage verändern sich Technologien so schnell, dass viele Menschen sich davon überfordert fühlen. Der Grund: Tausende von Jahren lang war der Fortschritt linear – die Welt veränderte sich über Generationen hinweg kaum. Heutzutage jedoch entwickelt sich alles mit exponentiell zunehmendem Tempo. Das menschliche Gehirn ist diese Geschwindigkeit nicht gewohnt. Oder noch nicht?
Heutzutage zählt weniger, was man über Funktionsweisen weiss, als vielmehr, wie gut man Fragen stellen oder Anweisungen für KI-Systeme formulieren kann – wie beispielsweise beim allbekannten Chatbot ChatGPT von OpenAI. (Foto: Jonathan Kemper)
Menschen bevorzugen Stabilität. Doch die Welt ist alles andere als stabil. Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (engl. VUCA) sind Merkmale des modernen Zeitalters. Technologien entstehen jedoch nicht über Nacht. Jahre, wenn nicht Jahrzehnte der Forschung und Entwicklung sind dafür notwendig. Exponentielles Wachstum braucht zunächst Zeit, bevor eine Technologie plötzlich ihr beeindruckendes Potenzial offenbart, scheinbar von einem Tag auf den anderen, und drastische Veränderungen hervorruft. Ein klassisches Beispiel ist die generative künstliche Intelligenz. Inzwischen macht die Konvergenz von Technologien fast alles möglich, was bisher wie Science-Fiction erschien, selbst in unserem Alltag. Konvergenz ist die Kombination von zwei oder mehr Technologien, die bisher getrennt voneinander entwickelt wurden. Wenn sie miteinander kombiniert werden, führen sie zu neuen Lösungen. Zum Beispiel wird die Verbindung zwischen künstlicher Intelligenz und dem Internet der Dinge (IoT) eine Effizienzsteigerung in Geschäftsprozessen bewirken und die CO2-Emissionen reduzieren. Als Ergebnis dieser Technologiekombinationen werden Menschen im nächsten Jahrzehnt mehr Fortschritte erleben als in den letzten 100 Jahren. Und hier spielt unter anderem die fünfte industrielle Revolution mit.
Industrielle Revolution: Von 4.0 zu 5.0
Während viele Unternehmen Schwierigkeiten haben, sich unter dem Paradigma der Industrie 4.0 zu digitalisieren und die notwendige Vernetzung zur Produktivitätssteigerung zu entwickeln, steht bereits die nächste Phase der digitalen industriellen Transformation, bekannt als Industrie 5.0, bevor.
Die Industrie 5.0 legt eine starke Betonung auf die Integration von Mensch und Maschine und nutzt die Technologie, um personalisierte, effiziente und nachhaltige Produktionsprozesse zu fördern. Im Gegensatz zur Industrie 4.0, die vorrangig auf Automatisierung und Effizienzsteigerung durch Technologie fokussiert, zielt Industrie 5.0 darauf ab, den Menschen wieder stärker in den Mittelpunkt des Produktionsprozesses zu stellen und gleichzeitig ökologische und soziale Nachhaltigkeit zu verbessern. Dieser Ansatz fördert nicht nur die technologische Innovation, sondern auch eine gerechtere Verteilung der Wertschöpfung und eine verbesserte Arbeitsqualität. Doch das ist nur die Spitze des Eisberges: Die folgende Übersichtsgrafik veranschaulicht beispielhaft das Big Picture von Technologien, Prinzipien und Komponenten der Industrie 5.0.
Technologische Innovation und deren Einfluss auf die Arbeitswelt
Beim Wandel hin zur Industrie 5.0 ist technologische Innovation mehr als nur ein Werkzeug; sie verändert grundlegend unsere Arbeitsweise und unseren Alltag. Heute zählt es weniger, was man über Funktionsweisen weiss, als vielmehr, wie gut man Fragen stellen oder Anweisungen für KI-Systeme formulieren kann (prompt engineering). Ben Shneiderman, ein bekannter amerikanischer Informatik-Professor, sagte einst passend: «The old computing was about what computer could do; the new computing is about what users can do.» – früher setzte also die Fähigkeit des Computers die Grenzen der Machbarkeit, heute geht es darum was Menschen mit der Technologie anfangen können.
Weiter geht es darum, jene Aufgaben zu identifizieren und zu automatisieren, die unbewusst ablaufen sollten. Dies schafft den kognitiven Freiraum, um sich auf wirklich bedeutsame Tätigkeiten zu konzentrieren. In der Kombination von menschlicher Kreativität und maschineller Effizienz liegt ein grosses Potenzial: Technologien wie Künstliche Intelligenz und Robotik unterstützen und erweitern menschliche Fähigkeiten, indem sie gefährliche oder ermüdende Aufgaben übernehmen. Diese Zusammenarbeit verbessert Sicherheit und Effizienz am Arbeitsplatz, während Menschen kreative und entscheidende Rollen innehaben. Dies führt wiederum zu höherer Zufriedenheit und Produktivität.
All dies definiert die Natur der Arbeit neu. Es ist eine beunruhigende Vorstellung, dass das Wertvollste, was man im Beruf tun kann, darin besteht, seine eigene Rolle neu zu gestalten.
Welche Skills brauche ich in Zukunft?
Während wir uns auf diese Zukunft zubewegen, ist es entscheidend, Fähigkeiten zu etablieren, um mit diesem Wandel Schritt zu halten. Unter anderem sind folgende Fähigkeiten in der fünften Industriellen Revolution unverzichtbar:
– Kreativität: Mit der Automatisierung routinemässiger Aufgaben wird Kreativität wichtiger. Die Fähigkeit, innovative Lösungen zu generieren und sich schnell an verändernde Umstände anzupassen, wird einen Wettbewerbsvorteil im Arbeitsmarkt bieten.
– Kritisches Denken: Die Analyse von Daten und das Treffen von evidenzbasierten Entscheidungen sind essenziell. In einer Welt, in der Algorithmen zunehmend Entscheidungen beeinflussen, sind Individuen, die kritisch denken und Probleme lösen, wertvoll.
– Anpassungsfähigkeit: Schnelle Veränderungen im Arbeitsmarkt erfordern lebenslanges Lernen, die Akzeptanz von Veränderungen und das schnelle Aneignen neuer Fähigkeiten und Technologien
– Kommunikation und Zusammenarbeit: Kommunikations- und Zusammenarbeitsfähigkeiten bleiben auch in einer automatisierten Welt entscheidend. Teamarbeit wird wichtiger und Individuen, die ihre Ideen klar ausdrücken, aktiv zuhören und effektiv mit anderen zusammenarbeiten können, werden Erfolg haben.
Ist alles so einfach?
Der langfristige Nutzen für die Industrie besteht darin, durch erfolgreiche Anpassung an eine sich wandelnde Welt weiterhin wettbewerbsfähig und relevant zu bleiben. Kurzfristig besteht das Risiko, durch die erforderlichen Investitionen vorübergehend an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber jenen zu verlieren, die noch nicht in Industrie 5.0 investieren. Investitionen sollten deshalb sorgfältig geplant und koordiniert werden. Dennoch besteht das grösste Risiko für die Industrie darin, sich nicht mit dem grösseren gesellschaftlichen Übergang zu Nachhaltigkeit, Menschzentriertheit und Resilienz zu beschäftigen und dadurch langfristig an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.
(Erstpublikation: Management & Qualität, Nr. 5-6, Mai 2024)