Bernhard Frei und Andrea L. Sablone 19.08.2022

Unternehmenskultur: Tatsachen, Möglichkeiten und Grenzen (Teil 2)

Im ersten Teil dieses Beitrags (Ausgabe 3-4/2022 Management und Qualität) wurde beschrieben, was eine Unternehmenskultur ausmacht und was diese von verwandten Begriffen wie Organisationsklima und Engagement abgrenzt. Dabei ging es um Kultur, wie sie gelebt wird, und nicht, wie sie im Leitbild steht.

Anhand eines dreistufigen Modells (Maerki, 2009) haben wir im ersten Teil den Einfluss der Unternehmenskultur auf die Leistungsfähigkeit einer Organisation gezeigt. Ausgehend von diesem Modell schildern wir nun, wie Führungskräfte durch die bewusste Steuerung der Organisationskultur die Leistungsfähigkeit ihrer Unternehmung steigern können.

Initiativen zur Entwicklung der Unternehmenskultur

Wie in nachfolgendem Modell skizziert, muss die Unternehmensführung auf das konsequente Ausleben von vier Werten achten (siehe Spalte «Unternehmenskultur» in unten stehender Abbildung). Dabei schliessen wir keinesfalls aus, dass Organisationen mit ganz anderen Werten finanziell erfolgreich sein können. Dies kann sogar dann der Fall sein, wenn sich die gelebten Werte durch eine negative Konnotation in der Wahrnehmung einiger Stakeholder auszeichnen – wie im ersten Artikel in Bezug auf besonders kompetitive und individualistische Orientierungen der Unternehmenskultur beschrieben – resp. wenn ein permanenter Wandel für Unstetigkeit und Unruhe sorgt, oder umgekehrt, wenn eine an Starrheit angrenzende Stabilität gefragt ist. Was die bisherige Forschung jedoch zeigt, ist, dass die Geschäftsleitung eine nachhaltige und sozialverantwortliche Entwicklung der Unternehmung fördert, wenn sie auf diese vier Werte setzt.

Fangen wir bei der stufengerecht ver­teilten Entscheidungsbefugnis an. Hier manifestiert sich das Prinzip der Bevoll­mächtigung jener Hierarchieebene, wel­che sich direkt mit dem entsprechenden Sachverhalt befasst. Dezentralisierte Entscheidungen über die gesamte Orga­nisation hinweg fördern eine integrale Kundenorientierung. Das unentbehrliche Gegengewicht dazu lautet: Wer Entschei­dungen trifft, soll auch die daraus folgen­den Konsequenzen mittragen. Vielen unserer Leser werden Situationen ver­traut sein, in denen Kollegen aus dem Vertrieb einem Kunden Versprechen gaben, die dann die Produktion in Be­drängnis stürzten, und umgekehrt, Situa­tionen, in denen die Produktion wichtige Entwicklungen verhinderte, um die Er­reichung ihrer Effizienzziele zu wahren. Wie weit die Übertragung der Entschei­dungsbefugnis gehen soll, kann bran­chenspezifisch dekliniert werden. Im Allgemeinen aber gilt, dass sie mit einer höheren Kundenorientierung einhergeht.

Die Verfügbarkeit der relevanten In­formationen ist essenziell, um darauf aufbauend die Entwicklung einer Orga­nisation voranzutreiben. Dies erfordert eine offene Kommunikation, welche allen Mitarbeitenden – unabhängig von ihrer hierarchischen Position – eine tragfähige Entscheidungsgrundlage bereitstellt. Nun ist es weder sinnvoll noch zielführend, allen alles kommunizieren zu wollen. Dies zunächst in Anbetracht der Überflutungs­wirkung, dann auch, weil gewisse Infor­mationen aus guten Gründen nicht ohne Weiteres preisgegeben werden sollten. Will aber die Geschäftsleitung ihre Mit­ arbeitenden bevollmächtigen, so muss sie diese in Kenntnis der Fakten, der Ein­schätzungen und der Ziele setzen, welche ihre Entscheidungen verorten und un­termauern sollen. Sind die Mitarbeiten­den im Bilde, so werden sie damit zu Entscheidungsträgern (im eigentlichen Wortsinn), können bewusst und gezielt nach Chancen Ausschau halten, wie sie die Entwicklung ihrer Organisation durch unmittelbare Kundennähe und Ge­schäftssinn vorantreiben können. Der Nachweis dieser bestehenden Beziehun­gen stützt die Schlussfolgerung, dass Un­ternehmen, die ein nachhaltiges, offenes und vertrauenswürdiges Umfeld mit einem regelmässigen Informationsaus­tausch fördern, positive Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit bei der Ge­schäftsinnovation erwarten können.

Wertschätzung wirkt sich in diesem Modell vorwiegend in der Kommunika­tion aus, und zwar unter hierarchisch Gleichgestellten und noch mehr zwi­schen Vorgesetzten und Mitarbeitenden. Die Bereitschaft, zuzuhören und die Mei­nung anderer wahrzunehmen, sie kon­struktiv zu besprechen und nicht voreilig beiseitezulegen, gekoppelt mit der Of­fenheit, die eigene Meinung respektvoll kundzutun, sie zu begründen und gege­benenfalls zugunsten einer zweckdien­licheren aufzugeben, sind praktische Ausprägungen einer wertschätzenden Kommunikation. Zahlreiche gute Folgen rühren daher und wir sehen hier von den allgemeinen Wirkungen auf das Arbeits­klima ab. Die Bereitschaft, offen und ehrlich Herausforderungen zu bespre­chen, Lösungen vorzuschlagen und un­terschiedliche Sichtweisen einzubringen, bereichert und verbessert die Entschei­dungsprozesse und fördert eine innovationsfreundliche Haltung.

Die Fähigkeit eines Unternehmens, sich bei allen Unstimmigkeiten und ver­schiedenen Meinungen doch immer wieder gemeinsam organisatorisch aus­ zurichten, wird mit dem Wert Einigkeit beschrieben. Dieser kann wiederum als eine Art «Sammelwert» betrachtet wer­den, weil darin die Bestrebungen von Führungskräften einfliessen, eine ge­meinsame Identität innerhalb und mit der Organisation zu gestalten, welche in einem geteilten Selbstverständnis inklusive ihrer Rolle in der Gesellschaft Ausdruck findet. Wenn den Mitgliedern einer Organisation klar ist, wie sich die Organisation definiert, wofür sie steht und welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen will, so wirkt sich das selektierend auf die Mitglieder der Organisation aus. Jene, die in der Organisation bleiben, werden auch die gemeinsamen Ziele tragen und bestrebt sein, diese zu erreichen.

Vorgehensweise zur Umsetzung in der eigenen Unternehmung

Die Veränderung einer Unternehmenskultur setzt eine Verpflichtung der Geschäftsleitung zu einem tiefgehenden Prozess voraus, der sich nicht in einer einmaligen Anstrengung erschöpft, sondern Teil ihres Pflichtenheftes werden soll. Folgende Schritte empfehlen wir zur konkreten Umsetzung:

  1. Die primäre Bewertung entsteht durch eine erste qualitative Befragung der Meinungsführenden (Valente u. Pumpuang; 2007) über den Stand der Unternehmenskultur. So kann das Fehlen eines unternehmenskulturellen Managements und seiner (fehlenden) Werte (Gap-Analyse) im Status quo verortet werden. [1]
  2. Darauf aufbauend, liefert eine quantitative Umfrage, ein Kultur-Assessment, eine sekundäre Bewertung. Dies geschieht durch die Erhebung statistisch valider Daten der kulturellen Werte durch alle Mitarbeitenden. [2]
  3. Die darauffolgende Datenauswertung ermöglicht es, Massnahmen zur Einleitung von Veränderungen gegenüber dem aktuellen Stand vorzubereiten. Dabei sollen Stärken und Schwächen des kulturellen Umfelds in den Teams, den Organisationseinheiten und dem ganzen Unternehmen entlang der Zeitlinie berücksichtigt werden. [3]
  4. Die Umsetzung beinhaltet die Definition, Planung und Genehmigung von Managementaktivitäten, um das Unternehmenskulturmanagement zu stärken.
  5. Das Controlling stellt mit der sekundären Bewertung auf quantitativer Basis sicher, dass die Eignung und Wirksamkeit der Managementaktivitäten hinsichtlich der Dimensionen (1) Prägnanz, (2) Tiefgründigkeit und (3) Verbreitung bestätigt werden (siehe dazu die Ausführungen im ersten Teil).
  6. Die jährliche Wiederholung der quantitativen Unternehmensumfrage (ab Punkt 2) stellt die nachhaltige Verankerung des strategischen Kulturmanagements und dessen Wirksamkeit in der Organisation sicher.

Praktisches Beispiel eines Schweizer KMUs

Zur Erläuterung der beschriebenen Vorgehensweise präsentieren wir im Folgenden den Fall einer mittelständischen, international tätigen Unternehmung aus dem Raum Zürich. Deren Geschäftsleitung setzte sich das Ziel, die Kulturwerte der Unternehmung hinsichtlich der finanziellen Leistungsfähigkeit zu stärken. Die Leistungsindikatoren Kundenorientierung, Geschäftsinnovation und Alignment dienten als Input für unternehmensspezifische Initiativen, um die Unternehmenskultur zu fördern. Es wurden dazu Kulturinitiativen zu funktionalen, organisatorischen, prozessualen und strategischen Initiativen definiert, geplant und umgesetzt.

Aus den Ergebnissen einer ersten qualitativen Umfrage bei Meinungsbildnern in allen Geschäftseinheiten in ganz Europa resultierte ein eindeutiger Handlungsbedarf in allen vier Kulturdimensionen. Daraufhin erstellte die Personalabteilung eine quantitative Umfrage zur unternehmensweiten Abfrage des gesamten Personalstands. Die Datenauswertung schärfte das ursprüngliche, qualitative Bild hinsichtlich regionaler und organisatorischer Ausprägungen der Kulturdimensionen.

Zur Stärkung der Führungsarbeit wurden Führungstrainings für Linienmanager durchgeführt. Damit sollte die Hebelwirkung der funktionalen Dimension der Organisationsstruktur maximiert und die stufengerechte Entscheidungsbefugnis und Wertschätzung gesteigert werden. Die eher technisch gelagerten Kompetenzen der Verkaufs- und Kundenprojektmanager wurden in intensiven Verkaufstrainings und einem «Lessons learned»-Prozess erweitert. Angebote können nunmehr mit weniger zeitraubender Rücksprache und Absicherung durch das Management schneller und kundennäher erstellt werden. Die stufengerechte Entscheidungsbefugnis und die Wertschätzung der Mitarbeitenden steigerte sich dadurch nachweislich und resultierte in deutlich mehr Bestellungen pro Angebot (Hitrate).

Das Anreizsystem wurde innerhalb organisatorischer Initiativen angepasst, sodass nicht nur die Marktseite, sondern auch die involvierten Fachkräfte das Projektrisiko mittrugen. Damit wurde das Alignment innerhalb der Organisation im Allgemeinen und die Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitenden zwischen den Hierarchiestufen im Speziellen gestärkt, weil nun das projektinhärente Risiko auf alle involvierten Schultern verteilt und die Verantwortung entsprechend der Kompetenz übertragen wurde.

Organisationsübergreifende Initiativen zu Industrietrendthemen wurden gebündelt, um sowohl das individuelle Fachwissen als auch die Marktanstrengungen unternehmensweit zu nutzen. Damit wurden die stufengerechte Entscheidungsbefugnis und die Wertschätzung aller Mitarbeitenden nachweislich gesteigert: Jede involvierte Stimme fand Gehör, wurde eingebunden und resultatsorientiert belohnt.

Es wurde ein unternehmensweiter Innovationsprozess eingeführt: In einem dreistufigen Ansatz wurden ressourcenschonend neue strategische Serviceportfolios gebündelt, um sie nach entsprechender Marktreife dem regulären Verkaufsprozess zuführen zu können. Damit sollte auch eine offene Kommunikation innerhalb des Unternehmens sichergestellt werden. In der ersten Stufe werden aus Industrietrends firmenrelevante Themen in einem Scouting zu einem Use-Case entwickelt und mit Testkunden verifiziert. Mit koordinierten Markteintritten werden auf der zweiten Stufe erfolgreiche Use-Cases zu ersten konkreten Serviceprodukten umgesetzt und nach Abschluss zu entsprechenden Referenzen aufgearbeitet. Reagieren die Kunden auch darauf positiv, werden sie durch dezidierte Verkaufskampagnen im dritten Schritt intern mit entsprechenden Fachspezialisten unterfüttert und extern dem gesamten europäischen Kundenportfolio zugänglich gemacht.

Schliesslich wurde der Prozess der unternehmensweiten Strategieentwicklung digitalisiert. Vormals zeitraubende analoge Prozesse und Werkzeuge der Umwelt- und Unternehmensanalyse wurden dadurch schlanker und transparenter. Die Entwicklung der strategischen Stossrichtungen unter Zuhilfenahme aller involvierten Mitarbeitenden wurden zu fast unmittelbar verfügbaren digitalen strategischen Entscheidungsgrundlagen. Dies förderte somit die unternehmerische Einigkeit und die offene Kommunikation, während ein standardisierter Beratungs- und Verkaufsansatz über die gesamte Wertschöpfungskette eine gemeinsame Sprache erlaubte und damit die offene Kommunikation, Wertschätzung und Einigkeit stärkte.

Fazit

Unternehmen können ihre eigene finanzielle Leistungsfähigkeit mithilfe benannter Kulturwerte steigern und sich über die Zeit und mit der Unterstützung ihrer Führungskräfte zu High-Performance-Teams entwickeln. Dabei können sie sich an den genannten Erfolgsprinzipien und Merkmalen orientieren. Allerdings wird eine rein mechanistische Befolgung des Verfahrens, ohne den Sinn dahinter zu verstehen und in den eigenen Kontext zu übertragen, die gewünschten Ergebnisse nicht herbeiführen. Deshalb müssen Führungskräfte eigenständig die für sie passenden Kulturinitiativen auch mithilfe der geschilderten Prinzipien, Praktiken und Methoden entwickeln, sie verinnerlichen und stetig optimieren.

Entlang der gezeigten sechs Schritte müssen Führungskräfte den Organisationsmitgliedern den Freiraum geben, sich jährlich zu formen und das Methodenset entsprechend den Umweltanforderungen anzupassen und weiterzuentwickeln. Dazu gehört auch die Messung des Unternehmenserfolgs relativ zur Verbesserung der Kulturdimensionen. Die Führungskräfte sollten ihre Teams dazu anhalten und befähigen, ihren eigenen Erfolg zu messen. Die Auswahl und Bewertung der geeigneten Kennzahlen müssten jedoch von der gesamten Organisation gemeinsam bestimmt werden.

Anmerkungen

1) Passende Werkzeuge und Fragenkataloge können bei Bedarf bei den Autoren bezogen werden.
2) Im vorliegenden Fall wurde ein «Surveymonkey» (www.surveymonkey.com) als Umfrage-Tool verwendet.
3) Es empfiehlt sich, Kontrollfragen und Abtiefungen in die Umfrage einzubauen.

Literatur

  1. Castka P., Bamber C.J., Sharp J.M., Belohoubek P. (2001), «Factors Affecting Successful Implementation of High Performance Teams», Team Performance Management: An International Journal, Vol. 7 No.7/8, pp. 123–34, MCB University Press.
  2. Maerki, P. (2009), «Leveraging Corporate Culture to Build Corporate Performance», A Thesis Submitted for the Degree of Doctor of Business Administration, Charles Sturt University, Bathurst, Australia.
  3. Valente, T.W., Pumpuang, P. (2007), «Identifying Opinion Leaders to Promote Behavior Change», Health Education & Behavior, 34(6), 881–896.

(Erstpublikation: Management und Qualität, 7-8 2022)

Bernhard Frei, Dr. BWL, M.Sc. Mechatronik

ist Dozent für Digitalisierung, Service Transformation und Digitalisierung an diversen Hochschulen der Schweiz und Direktor Corporate Development bei der PROSE AG in Bern.