Corona-Monitoring: Mit Daten zur Strategie
Ohne gesicherte Daten können Wissenschaft und Politik keine aussagekräftigen Prognosen zur Verbreitung des Coronavirus machen. Doch Daten alleine reichen nicht. Um die richtigen Schlüsse und Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie abzuleiten, braucht es eine Gesamtsicht. Hier setzt Prof. Dr. Marcel Tanner mit seiner langjährig erprobten Public-Health-Perspektive an.
(Quelle: Lukas Blazek – Unsplash)
Im zweiten Webinar der Reihe «Wissenschaf(t)t Perspektiven» am 20. April setzte Prof. Dr. Marcel Tanner in seinem Referat über Corona-Monitoring den Fokus auf den grösseren Zusammenhang zwischen Virus, Mensch, Tier, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. «Durch seine Forschungstätigkeiten in Afrika, Asien und Europa konnte der Infektionsbiologe und Epidemiologe ein holistisches Public-Health-Verständnis aufbauen», so stellte Moderator Dr. Rolf Heusser den Referenten bei der Webinar-Einleitung vor.
Daten sind nicht gleich Daten
Beim Corona-Monitoring geht es nicht ums Sammeln riesiger, maximal möglichen Datenmengen, sondern darum, mit den minimal nötigen Daten in Raum und Zeit die wichtigen Erkenntnisse zur Ausbreitung, Ort der Übertragung und schwere der Infektionen zu gewinnen: «Welche sind die minimal nötigen Daten, damit ich früh erkenne, wenn sich etwas verändert?».
Bisher gibt es laut WHO weltweit 141 Millionen Coronafälle und mehr als drei Millionen Todesfälle. Diese Zahlen geben zwar ein Bild der Lage, doch dabei zu beachten ist, dass die Qualität der Daten nicht durchgehend gleich ist, weil in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Testmöglichkeiten und -strategien herrschen. Als Beispiel nannte Tanner seine zweite Heimat Tansania, in der offiziell nur 500 Coronafälle gemeldet wurden, da der Präsident von Tansania die Tests als untauglich und Covid in seinem Land als – mit Gottes Hilfe – besiegt erklärt hatte. Solche unterschiedlichen Betrachtungsweisen und unterschiedliche Strategien müssen in der Interpretation und Bewertung der Güte der Zahlen stets mit einbezogen werden.
Heterogenität muss einbezogen werden
Auch innerhalb der Schweiz sind die Daten nicht einfach vergleichbar. Dafür gibt es zu viele Heterogenitätsfaktoren innerhalb der Bevölkerung wie Alter, Raum, Kultur sowie die Länge der andauernden Massnahmen. So gibt es Unterschiede in der Reaktion auf verordnete Massnahmen, wie der Aktivitätsindikator der Schweizer Bevölkerung gezeigt hat: Nach dem ersten Lockdown waren die Menschen disziplinierter in der Einhaltung der Massnahmen und zeigten weniger Mobilität als bei denselben Massnahmen in der zweiten Welle. Auch der Grad der Immunität variiert innerhalb der Schweiz, da die Übertragungsdynamik in den verschiedenen Regionen unterschiedlich war und ist. Auch sind die Antikörper nicht bei allen bereits exponierten und damit infizierten Personen in demselben Mass vorhanden.
«Welche sind die minimal nötigen Daten, damit ich früh erkenne, wenn sich etwas verändert?»
Public Health – One Health
Bei der Bekämpfung der Pandemie sind die Gesundheits- und Sozialsysteme von grosser Bedeutung, diese tragen die Wirtschaft. Anders als oft angenommen, ist es nämlich das soziale Gewebe, das die Wirtschaft trägt und nicht umgekehrt. Im Sinne von Public Health müssen diese Systeme deshalb miteinander gedacht werden. Massnahmen, die allein der Infektionskontrolle dienen, sind aus Sicht auf das Gesamtsystem nicht sinnvoll.
Beim Public-Health-Ansatz geht es genau darum, die verschiedenen Faktoren zu erfassen und in passende politische Aktivitäten zu überführen. Dabei spielt die Bevölkerung eine zentrale Rolle, die in diese Aktivitäten mit einbezogen werden soll. Tanner betonte dabei die Kommunikation als wichtiges Instrument.
Auch «One Health» spielt eine wichtige Rolle: Dies ist der Ansatz, bei dem die Veterinär- und Humanmedizin und die Umweltfaktoren zusammengebracht werden. Ein wachsendes Problem stellt nämlich der Rückgang von natürlichen Lebensräumen für Tiere dar. Dieser begünstigt, dass Krankheitserreger vom Tierreich auf den Menschen übertragen werden und sogenannte Zoonosen entstehen, wie dies beim Coronavirus der Fall war. Von rund 1400 bekannten Infektionskrankheiten sind rund 800 zoonotisch. Das Potenzial von neuen und/oder wieder aufflackernden Krankheiten ist damit riesig.
Wirksame Massnahmen
Schon im 19. Jahrhundert – noch vor der Keimtheorie – wurde das Händewaschen kombiniert mit der Distanzregel und mit Lockdowns als Massnahme gegen die Übertragung von Krankheiten progagiert und ist immer noch wirkungsvoll. Bei Lockdowns erwies sich, dass extrem starke Einschränkungen keine bisher keine besseren Effekte als «normale» Lockdowns erzielten. Auch sind flächendeckende Massnahmen nicht immer sinnvoll, da sich die Infektionslage regional unterscheidet. Die Impfung sieht Tanner als Teil der Lösung, die zusammen mit den anderen Massnahmen im Bündel zu weiteren Öffnungen führen kann.
In der Schweiz wird darauf geachtet, einerseits das Gesundheitssystem und vulnerable Personengruppen zu schützen und andererseits das soziale und wirtschaftliche Leben zu erhalten. Das bedeutet, dass beispielsweise die Schulen möglichst geöffnet bleiben sollen, um Bildungsrückstände, die die schwächeren Teile der Gesellschaft besonders betreffen würden, zu vermeiden. Bildungsrückstände können kaum kompensiert werden.
Surveillance – Response: Überwachen und Antworten
Grundsätzlich wäre gemäss Tanner das Prinzip der Surveillance and Response das vielversprechendste. Dieses besteht darin, dass durch Überwachen Infektionsherde rasch erkannt werden und situativ eingegriffen werden kann. Dazu war eigentlich das Contact Tracing angelegt, das aufgrund fehlender oder zu langsamer Prozesse leider noch nicht wie gewünscht funktioniert hat. Neu und erst seit wenigen Wochen kommen aber mit Schnelltests für Schulen, Betriebe und Veranstaltungen Teststrategien zum Einsatz, die diesen Ansatz entscheidend verstärken können. So ist es möglich, soziale Aktivitäten wie beispielsweise kulturelle Anlässe für Negativ-Getestete oder Geimpfte wieder zu ermöglichen. Dies nicht im Sinne einer Bevorzugung gewisser Personengruppen – da der Besuch von privatrechtlich organisierten Veranstaltungen nicht zu den Grundrechten zählt – sondern mit dem Ziel, Perspektiven zu geben. In diesem Sinne befürwortet Marcel Tanner auch den kürzlich getroffenen Bundesratsbeschluss, die Aussenterrassen von Restaurants wieder zu öffnen, da damit der Bevölkerung Perspektiven aufgezeigt werden.
Wirksamkeit
Ein wichtiges Prinzip der Wirksamkeit von Massnahmen erklärte Tanner anhand der folgenden Folie, die zeigt, dass durch verschiedene Systemfaktoren des Gesundheits- und Sozialsystems die Wirksamkeit verringert wird. Ziel ist es, eine verteilungsgerechte Effizienz zu erlangen, bei der für alle Faktoren das Maximum an Effektivität erreicht wird.
Grafik aus dem Webinar von Prof. Dr. Marcel Tanner
Risk-Benefit-Modell
Grundsätzlich geht es nicht nur um die beiden Zustände «Schliessen oder Öffnen», sondern um eine genaue Risikoabwägung, ein anhaltendes Überwachen und entsprechendes Reagieren. Keine Intervention ist ohne Risiken und deshalb sind Public-Health-Entscheide stets Güterabwägungen, die Risiken und Nutzen auf gesundheitlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene einbeziehen müssen. Interessant ist, dass diese Konzepte bereits qualitativ wie quantitativ von Daniel Bernoulli 1760 dargelegt wurden und sich auf die damals vorherrschenden Wellen von Pockeninfektionen bezog. Diese Erkenntnisse aus dem 18. Jahrhundert haben heute noch – gerade in der gegenwärtigen Coronasituation – vorbehaltlos Gültigkeit. Die Vergangenheit liegt vor uns. Die nachfolgende Grafik zeigt entsprechende Abwägungen für die Beurteilung der Situation in den Primarschulen in Abhängigkeit von unterschiedlich hoher Übertragungssituationen. Solche Abwägungen bieten auch auch für Betriebe und Organisationen eine Entscheidungshilfe.
Grafik aus dem Webinar von Prof. Dr. Marcel Tanner
Fragen aus dem Publikum
Zum Schluss beantwortete der Experte noch Fragen aus dem Publikum zu den Themen Wissenschaftlichkeit, zu den Schnelltests und zu den Massnahmen. Unter anderem betonte er, dass Halbwahrheiten das Schwierigste seien, denn leider würden sich oberflächliche Informationen und Halbwahrheiten schneller verbreiten als die Wahrheit. Er empfahl den Teilnehmenden, stets mehrere Quelle zu vergleichen, um verlässliche Informationen zu erhalten.
Über den Referenten
Prof. Dr. Marcel Tanner
Biologie, Chemie und medizinische Mikrobiologie/Immunologie, Universität Basel / Promotion in medizinischer Zoologie über die Afrikanische Schlafkrankheit / Master in Public Health, London School of Hygiene & Tropical Medicine / Leitung von Forschungsprojekten und Gesundheitsprogrammen in Afrika und Beteiligung an der Entwicklung von Malaria-Impfstoffen / Direktor emeritus des STI und des Public-Health-Instituts / ehemaliges Mitglied und Leiter Arbeitsgruppe Public Health der Swiss National COVID-19 Science Task Force / Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz