16.09.2024

Ein Auslandssemester im glücklichsten Land der Welt

Vom kleinen Klassenzimmer in den grossen Hörsaal: Oliver Kern hat im Rahmen des Mobilitätsprogrammes ein Semester lang in Finnland studiert. Dort hat er erfahren, wieso das finnische Volk so glücklich ist und was flexible Abgabefristen damit zu tun haben.

Oliver, wieso hast du dich für ein Auslandssemester entschieden?
Schon zu Beginn meines Studiums im Jahr 2021 war mir klar, dass ich unbedingt ein Auslandssemester absolvieren wollte, wenn sich mir die Gelegenheit dazu bieten würde. Ich sehe es als eine einmalige und wertvolle Chance im Leben, mit vergleichsweise geringem Aufwand intensiv in ein anderes Land und dessen Kultur eintauchen zu können. Darüber hinaus bin ich überzeugt, dass ein Austauschsemester sowohl für berufliche Fähigkeiten als auch für die persönliche Entwicklung etwas beiträgt, das einem sonst vorbehalten bleibt.

Wohin hat das Mobilitätsprogramm dich geführt und wieso gerade dorthin?
Das Mobilitätsprogramm hat mich in die nördlichste Grossstadt Europas, nach Oulu in Finnland, geführt. Bei der Wahl meiner Wunschdestinationen, wobei Oulu an erster Stelle stand, spielte für mich vor allem eine zentrale Frage eine Rolle: Wo komme ich in Kontakt mit etwas für mich völlig Neuem? Meine Wahl fiel schliesslich auf Oulu, da ich bis dahin keinerlei Berührungspunkte weder mit der finnischen Kultur noch mit den besonderen Gegebenheiten, die das Leben nahe des Polarkreises mit sich bringt, hatte. Alles, was ich zu diesem Zeitpunkt über Finnland wusste, war: Im Winter ist es lange dunkel, dafür im Sommer lange hell; die finnische Sprache gilt als besonders schwierig; regelmässige Saunagänge sind für Finnen ein Muss und das finnische Volk gilt als das glücklichste der Welt. Die glücklichsten Menschen der Welt sind bereits ein ziemlich überzeugendes Argument. Für mich kam jedoch noch hinzu, dass Oulu auch als das finnische Zentrum für die IT-Wirtschaft gilt, was es für mich als Informatiker natürlich besonders attraktiv machte.

Du absolvierst ja ein PiBS-Studium bei der FFHS und bei der Swisscom. Wie konntest du das Auslandssemester mit deinem Arbeitgeber organisieren?
Initial kam sowohl von der FFHS als auch von der Swisscom die Bereitschaft, mir dieses Auslandssemester zu ermöglichen. Beide Parteien vertraten die positive, aber etwas defensive Auffassung: «Wenn die andere Partei bereit ist, eine Lösung zu finden, sind wir es auch». Eine Fortführung meiner Tätigkeiten bei Swisscom während des Auslandsaufenthaltes war nicht möglich, aber wir konnten einen neuen Praktikumsvertrag für die Restdauer meines Studiums nach meiner Rückkehr abschliessen. Die FFHS war ihrerseits damit einverstanden, dass ich trotz praxisintegriertem Studium während dieses halben Jahres keine praktischen Erfahrungen sammeln konnte.

Welche Erfahrungen an der Hochschule in Oulu haben dich positiv überrascht?
Ich ging ja bereits mit dem Wissen nach Finnland, dass die dortige Bevölkerung als sehr glücklich gilt. Was jedoch die Faktoren für diesen Erfolg sind, war mir unbekannt. Während meiner Zeit in Finnland durfte ich diese glücklich machende Umgebung selbst erleben und erfahren. Dabei konnte ich für mich einen der Schlüsselfaktoren klar ausmachen: Für mich war dies der äusserst stressarme Alltag. Diese Grundhaltung zeigte sich sowohl im akademischen als auch im privaten Umfeld, besonders jedoch im akademischen Bereich überraschte sie mich.

Wie äusserte sich das?
Beispielsweise ist der Umgang mit Abgabeterminen deutlich gelassener. Auch bei Prüfungsterminen wird den Studierenden viel mehr Freiheit gelassen. Studierende können selbstständig einen Termin in einem offiziellen und überwachten Prüfungszimmer buchen und so eine Modulprüfung dann absolvieren, wenn es ihnen zeitlich passt. Den Stress von drei Modulprüfungen an einem Tag wird es unfreiwillig somit nie geben. Besonders positiv überraschte mich, dass trotz dieser Gelassenheit und des geringeren Leistungsdrucks die gewünschten Ergebnisse und Ziele meistens erreicht werden. Für mich stellte sich deshalb bald die Frage: Warum begeben wir uns hier in der Schweiz freiwillig in eine so stress- und leistungsdominierte Umgebung, wenn wir dadurch nicht einmal deutlich bessere Ergebnisse erzielen?

Was waren die grössten Unterschiede zur Schweiz? Im Studium und ganz allgemein?
Der für mich sicherlich grösste Unterschied war der Wechsel vom berufsintegrierten Studium zum Vollzeitstudium. Es war eine neue Erfahrung für mich, mein Leben vollständig auf das Studium ausrichten zu können. Auch das Leben und Studieren auf einem riesigen Campus mit 30’000 anderen Studierenden war neu für mich und stand in starkem Gegensatz zu meinen bisherigen Studientagen in der Welle 7 in Bern – vom kleinen Klassenzimmer in den grossen Hörsaal.

Wie hast du das Studium erlebt?
In Bezug auf die Art des Studierens fand ich vor allem die Umsetzung von «angewandten Wissenschaften» spannend. In der Schweiz war ich es gewohnt, neben dem Studium in einem Praxisbetrieb zu arbeiten und dort meine erlernten Fähigkeiten fortlaufend einzubringen, zu üben und zu validieren. In Finnland wurden diese beiden Bereiche klar getrennt. Zuerst werden die theoretischen Fähigkeiten im Unterricht erarbeitet. In einer zweiten Phase des Semesters gibt es keine themenrelevante Theorie mehr, sondern man muss das Gelernte in einem praktischen Projekt umsetzen. Zudem wird, mit Ausnahme der Austauschstudierenden, von den Studierenden erwartet, dass sie während der Semesterferien Praktika in Unternehmen absolvieren.

Und welche Unterschiede gab es ausserhalb des Hörsaals?
Ausserhalb des Studiums waren die kulturellen Unterschiede wahrscheinlich am deutlichsten spürbar. Es herrscht eine etwas andere Partykultur: Die Clubs sind an normalen Wochenenden fast leer, stattdessen werden Events veranstaltet, für die Tickets verkauft werden, die dann innerhalb weniger Minuten ausverkauft sind. Des Weiteren gibt es eine ausgeprägte Eventkultur mit sozialen Veranstaltungen an der Universität. So werden offizielle Brettspiel- oder Trinkspiel-Abende organisiert, bei denen sich alle Studierenden anmelden können. Nebst diesen Events ist es jedoch äusserst schwierig, mit finnischen Studierenden in Kontakt zu kommen.

Was wird dir in besonderer Erinnerung bleiben?
Da gibt es so vieles! Fachlich konnte ich sicherlich einige wertvollen Fähigkeiten mitnehmen. Was mir jedoch wahrscheinlich wesentlich mehr in Erinnerung bleiben wird, ist alles drumherum. Ein paar Beispiele, die mir sicherlich ganz speziell in Erinnerung bleiben werden, sind die extrem langen respektive kurzen Tage und Nächte, der Umgang mit sechs Monaten Winter, aber auch die aussergewöhnliche Gelassenheit der Leute und die regelmässigen Saunagänge.